Editorial

Membranlos in der Zelle

Henrik Müller


GÖTTINGEN: Eukaryotische Zellen machen sich membranlose Organellen zunutze. Wenn bei deren Reifung etwas schiefgeht, drohen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer. Göttinger Biophysiker sind den biochemischen Grundlagen auf der Spur.

Alle zellulären Organellen sind von Membranen umschlossen, besagt ein Dogma in Lehrbüchern eukaryotischen Lebens. Dass diese Definition die Natur intrazellulärer Kompartimente nur oberflächlich beschreibt, weiß etwa der Biophysiker Markus Zweckstetter am Göttinger Standort des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE): „Öl in Wasser formt Öltröpfchen, weil sich hydrophobe Bereiche zusammenlagern. Solch eine Flüssig-Flüssig-Phasentrennung vollziehen auch Proteine in der Zelle. Sie bilden Kondensate und heißen dann RNA-Granula, Stressgranula, Nukleoli oder P‑bodies. Wir kennen sie im Mikroskop seit langem, im Zytoplasma und Nukleoplasma, in Mitochondrien und Chloroplasten.“ Aber nicht aufgrund ihrer Allgegenwart wäre es sträflich, sie als einfache Einlagerungen an Speicher- oder Sekretstoffen abzutun. „In den letzten zehn Jahren ist uns klar geworden, dass sie biologisch wichtige Reaktionszentren sind, die im Gegensatz zu anderen zellulären Kompartimenten eben nicht von Membranen umschlossen sind.“

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Die NMR-Halle am MPI für Biophysikalische Chemie in Göttingen. Fotos (2): Henrik Müller
Vollgestopft mit Protein

Was ist, abgesehen von der fehlenden Membran, das Besondere an ihnen? Außergewöhnlich ist ihre Konzentration an Protein, die bis zu 300-fach höher ist als im umgebenden Plasma. Tatsächlich ist das eine von mehreren Voraussetzungen für ihre Entstehung. Die Forschungsgruppe Zweckstetter untersuchte die Tröpfchenbildung mit differentiellem Interferenzkontrast und Fluoreszenzmikroskopie und quantifizierte sie anhand von Trübungsmessungen. Sie fand, dass Temperatur, pH, Salinität und Osmolarität bestimmten Anforderungen genügen müssen, um ein besseres Lösungsmittel für Proteine zu sein als der umgebende Puffer. Sind die Kondensate vielleicht nur Zeugnis einer überforderten Degradationsmaschinerie? „Keineswegs. Trotz des makromolekularen Overcrowdings sind die Proteine im Inneren der Granula nicht im herkömmlichen Sinn aggregiert. Photobleaching-Experimente weisen auf flüssigähnliche Eigenschaften hin“, erklärt Zweckstetter. Was der studierte Physiker mit Innerem meint, steht in unbeschränktem Austausch mit seiner Umgebung. Eukaryotische Zellen verfügen also über kohärente Kompartimente ohne klassische Kompartimentierung. Die Zeiten ordentlich Membran-umschlossener Reaktionsräume sind vorbei.

Ironischerweise ist es dabei Unordnung, die die Fluidität der Proteintröpfchen organisiert. Denn in ihrem Inneren finden sich vor allem intrinsisch ungeordnete Proteine, die flüchtig und unspezifisch miteinander interagieren. Zweckstetter spricht von struktureller Flexibilität und Promiskuität, die das Wechselwirkungsdurcheinander in die Proteintröpfchen bannen. „Noch ist wenig bekannt über ihre Entstehung. Im Teströhrchen können wir die Phasenseparation beobachten und etwa durch Zugabe von RNA antreiben. Was wir aber nicht gut können, ist in die Tröpfchen hineinsehen, um die Strukturdynamik beteiligter Proteine zu verstehen.“

Zweckstetters Interesse geht über reine Grundlagenforschung hinaus. Kürzlich brachte der Biophysiker membranlose Kompartimente mit der Alzheimer-Krankheit in Verbindung (Nat. Commun. 8: 275).

Eines ihrer Hauptmerkmale ist die Anhäufung fibrillärer Aggregate im Perikaryon. Die Fibrillen bestehen hauptsächlich aus hyperphosphoryliertem Tau, einem hochlöslichen Protein, das in seinem normalen Leben Mikrotubuli des Cytoskeletts reguliert. Dafür fluktuiert es zwischen verschiedenen Konformationen, ist also ein Paradebeispiel intrinsisch ungeordneten Verhaltens.

Wie es die neurofibrillären Aggregate der Alzheimer-Krankheit aber bildet, ist ungeklärt. „Wenn wir Tau in millimolarer Konzentration einen Monat stehen lassen, aggregiert überhaupt nichts. Es muss also andere Mechanismen geben, die Tau-Fibrillen im Gehirn von Alzheimer-Patienten ablagern. Unsere Beobachtung ist, dass die Mikrotubuli-bindende Domäne von Tau phasenseparieren kann und Proteintröpfchen bildet. Und nur wenn sie das tut, sind später auch Fibrillen zu finden. Deshalb glauben wir, dass die Flüssig-Flüssig-Phasentrennung ein entscheidender Zwischenschritt auf dem Weg zur pathologischen Tau-Aggregation ist.“

Kritisch herabgesetzt

Doch sind bisherige Hinweise auf einen direkten Zusammenhang mehr als Indizienbeweise? Laut Circulardichroismus (CD)-Spektren nimmt die intrinsisch ungeordnete Natur von Tau während der Phasenseparation zugunsten von β‑Faltblatt-Anteilen ab, ihrerseits Grundvoraussetzung zur Entstehung fibrillärer Aggregate. Auch hängt die Fibrillogenese ähnlich von Temperatur, Salzgehalt und pH ab wie die Phasenseparation. Außerdem fanden die Göttinger Forscher, dass Phosphorylierung die zur Tröpfchenbildung kritische Tau-Konzentration massiv herabsetzt. Auch der Bildung unlöslicher Tau-Fibrillen geht eine Hyperphosphorylierung voraus.

Im größeren Zusammenhang scheint alles Sinn zu ergeben: „Unsere Ergebnisse passen überraschend gut zu denen anderer intrinsisch ungeordneter Proteine wie FUS und TDP43, die eine Rolle in amyotropher Lateralsklerose und frontotemporaler Demenz spielen. Beide Proteine phasenseparieren. Wenn sie dann Mutationen enthalten, die aus Patienten bekannt sind, altern die Tröpfchen beschleunigt. Und dann bilden sich aus ihnen heraus Fibrillen. Für Tau haben wir das aber eben noch nicht gesehen. Das ist der Beweis, nach dem wir suchen.“ Wofür Zweckstetter natürlich einen Plan hat: „Wir werden Mutationen in Tau einführen, die in Patienten entdeckt wurden. Da gibt es verschiedene. P301L ist etwa sehr charakteristisch, da es in transgenen Mäusen die Entstehung fibrillärer Ablagerungen stimuliert und zu Bewegungs- und Verhaltensdefiziten führt. Wir sind gespannt, ob es, ähnlich wie TDP43, Tröpfchen viskoser macht und die Konversion in den fibrillären Zustand beschleunigt.“

Nicht sensitiv genug

Aktuell begrenzt noch mangelnde Technik seine Forschung. Denn CD-Spektroskopie ist nicht sensitiv genug, um lokale Strukturänderungen zu detektieren. „Die zugrunde liegenden Kräfte und biochemischen Prozesse finden auf der Sub-Nanometer-Ebene statt. Für deren Verständnis kann nur NMR [Anm. d. Red.: Nuclear Magnetic Resonance] Informationen liefern, ob intermediäre Strukturen induziert und welche Wasserstoffbrücken gebildet werden.“

Deshalb kooperiert Zweckstetter mit dem Strukturbiologen Christian Griesinger vom Göttinger Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie. Ein Besuch des dort als Laborraum dienenden Hangars voller tonnenschwerer Spektrometer zeigt sofort, welche strukturbiologische Methode dominiert. „Im Fall von Flüssig-NMR-Messungen von monomerem, also nicht aggregiertem Tau erhalten wir hochaufgelöste Spektren. Induzieren wir aber die Phasenseparation, zum Beispiel durch Zugabe von RNA, sehen wir starke Signalverbreiterungen im Spektrum. Das deutet darauf hin, dass die einzelnen Tau-Moleküle eng miteinander interagieren, ein Netzwerk Fibrillogenese-anfälliger Aminosäurereste bilden. NMR-Diffusionskoeffizienten von Tau bleiben gleichzeitig aber hoch. Von daher wissen wir noch nicht, warum es zu dieser starken Signalverbreiterung kommt. Und welche biologische Konsequenz sie birgt.“

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Markus Zweckstetter (zweite Reihe, ganz links) und seine Senior-Forschungsgruppe „Translationale strukturelle Biologie der Demenz“.
Vielschichtige Mikroreaktoren

Und das schlägt die Brücke zurück zur Grundlagenforschung. Die Proteinkondensate sind heterogene, vielschichtige Strukturen, deren einzelne Bereiche sich in ihrer Viskosität unterscheiden. Leicht sind sie als dynamische Mikroreaktoren vorstellbar, die biologisch aktive Verbindungen konzentrieren und so Reaktionsraten erhöhen. Für Nukleoli, Cajal-Körper und Splicing Speckles wird genau das aktuell diskutiert. Die Fähigkeit von RNA-Granula, Nukleinsäuren zu konzentrieren, lässt sie als protozelluläre Schmelztiegel während der Entstehung des Lebens erscheinen. Stress-Granula, die feststeckende Translationskomplexe für später aufheben, sind in die räumlich-zeitliche Selbstorganisation der Zelle eingebunden. Zweckstetter und Co. würde es daher wahrscheinlich nicht verwundern, wenn proteinogene Aggregatzustände als Paradigma intrazellulärer Organisation erkannt würden.

Von der hohen biologischen Relevanz der Phasenseparation ließ sich auch der Europäische Forschungsrat (ERC) überzeugen. Letztes Jahr erhielt Zweckstetter rund 2,5 Millionen Euro für die Dauer von fünf Jahren. Therapeutische, technische und wirtschaftliche Auswirkungen seiner Forschung sind kaum zu unterschätzen. Es werden spannende Jahre werden.



Letzte Änderungen: 10.10.2019