Editorial

Als würde man Wildgänse jagen

Tobias Ludwig


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Im Spinnenseidenprotein steckt erstaunlich viel Methionin... Foto: Pixabay; Collage: Hannes Neuweiler

(08.12.2019) WÜRZBURG/MAINZ: Spinnenseide ist eines der elastischsten und widerstandsfähigsten Materialien auf der Erde. Seit der erstmaligen Herstellung rekombinanter Spinnenseidenproteine 1995 gab es zwar einige Fortschritte, doch die Produkte kommen noch nicht an das natürliche Original heran.Zwei Forschungsgruppen konnten nun zeigen, dass Flexibilität der Schlüssel zur Stabilität der Seide ist, und brechen dabei mit der vorherrschenden Meinung der Strukturbiologie.

Als Hannes Neuweiler während eines Forschungsaufenthalts am Medical Research Council Center for Protein Engineering in Cambridge beginnt, sich mit Spinnenseide zu beschäftigen, hat das zunächst nur einen Grund: Er möchte seine neue Methode, die photoinduzierte Elektronentransfer-Fluoreszenz-Korrelations-Spektroskopie (kurz PET-FCS), an einem geeigneten Molekül testen. Die Proteine, aus denen sich eine Spinnenseidenfaser zusammensetzt, die Spidroine, erweisen sich als ein exzellentes Testobjekt und ziehen Neuweiler darüber hinaus in ihren Bann.

Heute ist Neuweiler Leiter der Forschungsgruppe Protein Engineering and Dynamics an der Universität Würzburg und beschäftigt sich noch immer mit Spidroinen und ihren Bausteinen. „Die N-terminale Domäne von Spidroinen weist eine ungewöhnliche Dynamik auf, obwohl sie strukturell eher unscheinbar ist“, erzählt Neuweiler. Die Seidenproteine bestehen aus einer großen repetitiven Region, die hauptsächlich aus Ansammlungen der Aminosäuren Alanin und Glycin bestehen, und einer N- sowie C-terminalen Domäne an den jeweiligen Enden des Proteins. „Die N-terminale Domäne ist für die kontrollierte Zusammenlagerung der einzelnen Spidroine während der Faserbildung im Spinnkanal wichtig. Sie macht allerdings nur zehn Prozent des gesamten Proteins aus“, erklärt Neuweiler. Bemerkenswert sei auch, dass die Struktur dieser Domäne zwar in atomarer Auflösung bekannt, der genaue Prozess der Faserbildung jedoch noch nicht völlig verstanden ist. Ute Hellmich, Leiterin für Membranbiochemie an der Universität Mainz und Kooperationspartnerin von Neuweiler, erklärt: „Die Spidroine werden in speziellen Drüsen der Spinne gebildet und wandern durch einen relativ langen Trakt, in dessen Verlauf sie sich durch chemische und mechanische Prozesse zu einer Faser verbinden.“

Wie der Zufall so will

Als Neuweiler seine bisherigen Ergebnisse zur Faltung und Dynamik der N-terminalen Domäne des Ampullendrüsen-Spidroins (Major Ampulla Gland Spidroine, MaSp) der Jagdspinne Euprosthenops australis auf einer Konferenz in Polen vorstellte, brachte ihn die im Publikum sitzende Biochemikerin Elizabeth Komives von der University of California in San Diego auf eine Idee: „Auf der letzten Folie meines Vortrags habe ich zum Abschluss die ungewöhnliche Aminosäure-Zusammensetzung der N-terminalen Domäne gezeigt. Elizabeth Komives bemerkte, dass die Domäne erstaunlich viele Methionine enthalte, eine Aminosäure, die sehr flexibel ist. Das war mir bis zu dem Zeitpunkt nicht aufgefallen.“ Tatsächlich liegt der Methioningehalt mit circa 7,4 Prozent deutlich über dem Protein-Durchschnitt von etwa 2,5 Prozent.

„Die Diskussion auf der Konferenz brachte mich auf die Idee, alle sechs Methionine der Domäne gleichzeitig auszutauschen. Ich habe mich dann mit dem Methionin-Spezialisten Sam Gellman von der University of Wisconsin-Madison kurzgeschlossen und gefragt, gegen welche Aminosäure Methionin am besten auszutauschen sei. Bei der Diskussion über das Mutagenese-Projekt bemerkte Sam Gellman ‚this sounds like a Wild Goose Chase‘ – das hört sich nach einem quasi aussichtslosen Unterfangen an.“ Der Grund: Mutationen im Kern von Proteinen führen meist zu einem großen Verlust der Stabilität. Das mutierte Protein kann dann oft gar nicht mehr exprimiert werden. Will man nun sechs Aminosäure-Seitenketten in einem Rutsch austauschen, statt die Modifikationen sukzessive einzuführen, ist der Misserfolg im Prinzip programmiert.

Bei dem mutierten Spidroin verhält es sich jedoch anders. Die Würzburger tauschten alle sechs Methionine der N-terminalen Domäne gegen die Aminosäure Leucin aus, die ähnliche Eigenschaften aufweist, und konnten das Protein erfolgreich in Escherichia coli herstellen. Das exprimierte, gereinigte Protein schickte Neuweilers Gruppe dann direkt an Hellmich nach Mainz. „Wir erhielten dann immer Proben, die mit ‚Wild Goose‘ gelabelt waren“ erinnert sich Hellmich und lacht. „Als wir uns die Struktur des Proteins mittels Kernspinresonanzspektroskopie (NMR) ansahen, waren wir sehr überrascht.“ Die „Wildgans“ war mit dem Wildtyp strukturell nahezu identisch (Nat. Commun. 10: 4378). Ein unerwartetes Ergebnis, da Mutationen in hydrophoben Proteinkernen oft deren Strukturen ändern und die Stabilität des Gesamtproteins reduzieren. Der Austausch der Methionine gegen Leucin hat bei dem Spidroin jedoch einen gegenteiligen Effekt: Das mutierte Protein faltet sich schneller als der Wildtyp und lässt sich schwerer wieder entfalten – ist also stabiler geworden.

Hand in Hand

Bei der Aufklärung der Struktur und Dynamik der Proteine erweist sich die Kooperation der beiden Forschungsgruppen als äußerst produktiv und effizient. Hellmich: „Wir hatten den Vorteil, dass die Methoden unserer beider Gruppen komplementär zueinander waren. Hannes´ Gruppe erhielt mit ihrem PET-FCS ein Ergebnis, das wir mit unserem NMR bestätigen konnten. Das ist ja nicht immer so in der Wissenschaft.“ Zudem sei insbesondere die Zusammenarbeit der Doktoranden Julia Heiby und Benedikt Goretzki durch eine gute Kommunikation und Diskussion der Ergebnisse geprägt gewesen, fügt Neuweiler hinzu.

Während des Projektes gab es dann auch zwei Aha-Erlebnisse, die zeigen, dass die beiden Gruppen etwas fundamental Neues entdeckt haben. „Wir hatten uns zunächst mit der Struktur des mutierten Proteins beschäftigt und als wir dann einen Wasserstoff/Deuterium-Austausch durchgeführt hatten, waren wir von den Ergebnissen begeistert“, erinnert sich Hellmich. Anhand der Austauschrate lässt sich abschätzen, wie gut bestimmte Bereiche eines Proteins durch ein Lösungsmittel erreicht werden können – also wie flexibel diese Bereiche sind. Das mutierte Protein weist eine deutlich langsamere Austauschrate und somit niedrigere Flexibilität auf als der Wildtyp.

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... – das haben Hannes Neuweiler und Ute Hellmich herausgefunden, und auch, was der hohe Methionin-Anteil für die Spinnenseide bedeutet. Foto: Erika Dieh (rechts)
Flexibel durch Methionin

Ein weiterer Schlüsselmoment war die Entdeckung des Tryptophan-Flips. Neuweiler: „Ich habe während der Entwicklung der PET-FCS in einer veröffentlichten Struktur der N-terminalen Domäne eines Spidroins gesehen, dass sie ein einzelnes Tryptophan aufweist. Die Aminosäure Tryptophan ist in der Lage, die Fluoreszenz von bestimmten Farbstoffen auszulöschen, wenn beide Moleküle in Kontakt kommen. Diese Löschung (oder das ‚Ausschalten‘) der Fluoreszenz kann man dann messen.“ Wenn Spidroine dimerisieren, komme es nun zu einer messbaren Konformationsänderung innerhalb der N-terminalen Domäne. Das Tryptophan an Position zehn drehe sich aus einer hydrophoben Tasche der Domäne nach außen. Dieser Vorgang sei wichtig für eine stabile Dimerbildung. „Bei der mutierten Variante bleibt das Tryptophan in der Domäne begraben und wir beobachten nur eine schwache Dimerbindung. Die Methionine sind also essenziell für diese Konformationsänderung“, fasst Neuweiler zusammen.

Das Besondere an den Entdeckungen von Neuweiler und Hellmich: Bisher ging man davon aus, dass die Aminosäure Methionin keine besondere Funktion im Protein erfüllt. Die Ergebnisse aus Würzburg und Mainz zeigen jedoch, dass der Methioningehalt die Proteinflexibilität und somit mögliche Protein-Protein-Interaktionen beeinflusst. Neuweiler: „Meines Wissens ist diese starke Akkumulation von Methioninen bisher nur in den Spidroin-Domänen zu beobachten. Die Ergebnisse stützen jüngere Erkenntnisse der Strukturbiologie und Biophysik von Proteinen, dass die Dynamik eines Proteins entscheidenden Einfluss auf seine Funktion hat.“ Bei den Spidroin-Domänen sei auf beeindruckende Weise zu sehen, dass diese Flexibilität essenziell für die Funktion ist. „Die Dynamik der Proteine konnten wir nur untersuchen, da unsere Methoden – also NMR und PET-FCS – es ermöglichen, Proteine in Lösung zu beobachten“, ergänzt Hellmich. Bei anderen, gängigen Methoden wie der Röntgenkristallographie oder auch Cryo-NMR sei dies nur sehr begrenzt möglich, da hier die Proteine in fester Phase analysiert werden.

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Foto: Privat (links)
Begeisterungsstürme

Die beiden Forscher haben bereits weitere Projekte zusammen geplant. Es gehe nun darum, die Ergebnisse auf andere Proteindomänen zu übertragen und die Dynamik des Tryptophans in der Spidroin-Domäne näher zu untersuchen, erklärt Neuweiler. Über einen Mangel an positivem Feedback können sich die beiden jedenfalls nicht beklagen: „Bei der Vorstellung der Ergebnisse haben wir schon von einigen Kollegen gehört, dass diese es kaum erwarten können, auch in ihren Proteine Methionine in den Kern einzubauen“, erzählt Neuweiler und lacht.



Letzte Änderungen: 08.12.2019