Editorial

Ein Vibrator für Zellen

Larissa Tetsch


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Das Piezoelement bringt die Oberfläche in Schwingung, wodurch die Zellen die Wunde schneller verschließen. Aufnahme: AG Westerhausen

(08.03.2021) AUGSBURG: Nach einer Hüft-OP sollen die Patienten möglichst schnell wieder fit werden. Biophysiker versuchen deshalb, mithilfe von Schallwellen die Wundheilung zu beschleunigen.

Rund 200.000 Menschen erhalten in Deutschland jedes Jahr ein künstliches Hüftgelenk. Je nach Operationstechnik entsteht dabei eine mehr oder weniger große Wunde, die verheilen muss, bevor der Patient das Krankenhaus verlassen kann. Denn dort, wo die natürliche Barriere des Gewebes gestört ist, können Krankheitserreger in den Körper eindringen und schwere Infektionen verursachen. Kein Wunder, dass Forscher mithilfe von entzündungshemmenden Substanzen und Wachstumsfaktoren versuchen, die Wundheilung zu beschleunigen.

Auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheint dagegen der Ansatz, Ultraschallwellen dafür einzusetzen. Tatsächlich funktioniert die Methode, allerdings mit verschiedenen Nachteilen. So dringen Ultraschallwellen nur schlecht ins Gewebe ein und können außerdem nur mit geringer Intensität eingesetzt werden, da sie sonst das Gewebe zu stark erwärmen. Für die Anwendung im Inneren des Körpers wie nach einer Hüft-OP sind Ultraschallwellen deshalb eher nicht geeignet.

Schwingende Chips

Eine Alternative könnten sogenannte akustische Oberflächenwellen sein, die Christoph Westerhausen von der Universität Augsburg mit seinem Team aus Physikern, Chemikern sowie Materialwissenschaftlern am Institut für Physik und Institut für theoretische Medizin erforscht. „Wir interessieren uns generell dafür, biologische und medizinische Phänomene auf physikalische Mechanismen zu reduzieren“, so der Physiker. „Die Ergebnisse, die wir an den daraus abgeleiteten Modellen erhalten, führen wir dann auf das biologische Objekt zurück.“ Einer der Forschungsschwerpunkte sind Schallwellen-induzierte Hybridsysteme, mit denen sich Zellen beeinflussen lassen (Journal of Physics D: Applied Physics 52.35: 353001). „Je nach Amplitude können wir Schallwellen ganz unterschiedlich nutzen, um die Wundheilung zu erforschen“, erklärt Westerhausen. „‚Leise‘ Wellen mit kleiner Amplitude dienen beispielsweise der Sensorik. Wir können damit erfassen, wie weit die Heilung einer Wunde vorangeschritten ist (Biosensors and Bioelectronics 173: 112807). Mit ‚lauteren‘ Wellen – also solchen mit größerer Amplitude – kann man Zellen dagegen in eine bestimmte Position zwingen.“

Eher sanft wirken die akustischen Oberflächenwellen, die Westerhausens Team auf einem Chip mit piezoelektrischer Oberfläche erzeugt. Wird der Chip unter Spannung gesetzt, beginnt seine Oberfläche zu schwingen. Die Welle breitet sich von der Oberfläche ins umgebende Medium aus und dringt mit etwa einer halben Wellenlänge in die auf dem Chip platzierten Zellen ein. Ein ganz wesentlicher Vorteil ist dabei, dass die Welle direkt am Chip entsteht, wie Westerhausen erklärt: „Ultraschallwellen entstehen, wenn ein Körper schnell schwingt. Es handelt sich um Dichtewellen, bei denen sich lokal der Druck ändert und die sich im Medium ausbreiten. Mit der Entfernung werden sie stark gedämpft. Im Unterschied dazu dringen elektromagnetische Wellen gut ins Gewebe ein. So könnten wir einen Chip, der mit einem künstlichen Hüftgelenk verbunden ist, drahtlos über Funk ansteuern und die Oberflächenwelle direkt im Körper erzeugen.“

Um die Wirkung der Wellen zu erforschen, platzierten die Forscher eine künstliche Wunde auf dem Chip. Prinzipiell ließe sich eine solche Wunde herstellen, indem eine einschichtige Zellkultur mechanisch verletzt wird. „Hier besteht aber die Gefahr, dass die Ergebnisse durch Veränderungen, die in den verletzten Zellen stattfinden, beeinflusst werden“, gibt Westerhausen zu bedenken. Aus diesem Grund wird eine ausgefeiltere Methode angewendet: Dafür bringen die Forscher zuerst ein vorgefertigtes Polymerklötzchen auf dem Chip auf, in dessen Innerem sich zwei Kammern befinden. Zwischen den Kammern bleibt ein Spalt von einem halben Millimeter frei. In die Kammern geben sie dann eine Lösung mit Zellen, die sich vermehren, bis der Boden mit einer Einzellschicht bedeckt ist. Das Klötzchen kommt dann weg und übrig bleibt eine durchgängige Zellschicht mit einem Spalt von einem halben Millimeter – die künstliche Wunde.

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Good Vibrations – Christoph Westerhausen setzt künstliche Wunden heilenden Schwingungen aus. Foto: Uni Augsburg
Vibration macht wanderfreudig

Passend zur anvisierten Anwendung in einem künstlichen Hüftgelenk verwendete die Gruppe für die Versuche zuerst Zellen einer Knochenkrebszelllinie. Tatsächlich konnten die Augsburger 2016 zeigen, dass ihre akustischen Oberflächenwellen dazu führten, dass die Knochenzellen die Wunde um 15 Prozent schneller schlossen (Biomater. Sci. 4: 1092). In ihrer aktuellen Veröffentlichung konnten sie nun bestätigen, dass dieser Effekt auch bei anderen Zelltypen zu sehen ist und das zum Teil sogar noch ausgeprägter (PNAS 117: 31603). Die Wellen beschleunigten das Wachstum der Epithelzelllinie MDCK-II sogar um 135 Prozent. Epithelzellen sind für die Prozesse der Wundheilung und Regeneration essenziell, da sie natürlicherweise Gewebe bedecken und schützen. Dass die Oberflächenwellen ihr Wachstum im Experiment stärker beeinflussten, hängt möglicherweise mit den unterschiedlichen Eigenschaften der Zellen zusammen, wie Westerhausen darlegt: „Knochenkrebszellen sind mesodermale Zellen ohne Polarität, die sehr mobil sind, sich aber nicht kollektiv fortbewegen. Die ektodermalen Epithelzellen haben dagegen eine apikale und eine basale Seite. Durch Tight-Junction-Membranproteine sind sie fest miteinander verbunden und migrieren kollektiv.“

Das beobachtete beschleunigte Schließen der Wunde kann prinzipiell auf zwei Effekte zurückzuführen sein. Zum einen ist es möglich, dass die Zellen sich häufiger teilen. Sie könnten aber auch vermehrt von den Wund­rändern in die Wunde einwandern. Tatsächlich war die Proliferation der Zellen auf dem Chip doppelt so hoch, wenn Oberflächenwellen vorhanden waren. Da dies allerdings alle Orte auf dem Chip betraf, auch solche, die außerhalb des Einflussgebiets der Wellen lagen, musste es für diesen Effekt eine andere Erklärung geben. „Die Oberflächenwellen erzeugen als Nebeneffekt eine Strömung im Nährmedium auf dem Chip“, erklärt Westerhausen. „Wir konnten zeigen, dass dieser Streaming-Effekt für die verbesserte Proliferation verantwortlich ist. Die Migration wird dagegen vom Streaming-Effekt nicht beeinflusst und lässt sich direkt auf die Oberflächenwellen zurückführen.“ Dazu passt auch, dass die Forscher ausschließen konnten, dass das durch die akustischen Oberflächenwellen erzeugte elektrische Feld einen Einfluss auf die Wundheilung hatte. Wenn sie ein elektrisches Hochfrequenzfeld alleine anlegten, ohne die Oberflächenwellen, hatte dies keinen Einfluss auf die Wundheilung.

Den Mechanismus im Blick

Was aber macht nun die mechanische Stimulation mit den Zellen? Wichtig war erst einmal, dass sie diese nicht schädigen. Als Maß für Zellstress wird gerne die Produktion reaktiver Sauerstoffspezies (ROS) verwendet, die bei Nekrose und programmiertem Zelltod entstehen. Mithilfe von Fluoreszenz-Imaging konnten die Forscher in einer Kollaboration mit Regina Fluhrer, Inhaberin des Lehrstuhls für Biochemie und Zellbiologie an der Medizinischen Fakultät der Universität Augsburg, zeigen, dass durch akustische Oberflächenwellen stimulierte Zellen nicht mehr ROS bildeten als nicht-stimulierte Zellen – also mit großer Wahrscheinlichkeit nicht stärker gestresst waren.

Was die Vibration in den Zellen auslöst, wollen die Forscher nun in weiteren Experimenten klären. Bekannt ist, dass mechanische Stimulation die interne Calciumkonzentration erhöhen kann und dass das wiederum die Zellmigration anregt. Ob dies die Wirkung der Oberflächenwellen erklärt, soll zukünftig genauso untersucht werden wie die Rolle von mechanosensitiven Proteinen. „Besonders interessant für uns ist auch, wie beispielsweise Herzmuskelzellen, die normalerweise deutlich stärkeren mechanischen Deformationen ausgesetzt sind als Epithelzellen, auf die Oberflächenwellen reagieren“, sagt Westerhausen. Bereits begonnen haben Untersuchungen an einer Nierenzelllinie, in der sich Proteasen modifizieren lassen, die einen Einfluss auf die Zelladhäsion und damit auf die Migration haben. Wenn alles läuft, wie es sich die Biophysiker vorstellen, kommen die Chips zukünftig in künstlichen Hüftgelenken zum Einsatz. Sie müssten dann allerdings aus einem Material bestehen, das sich im Körper mit der Zeit auflöst, um eine erneute Operation zu vermeiden. „Aber auch die Behandlung von äußeren Wunden wäre denkbar“, blickt Westerhausen in die Zukunft. „Dabei würde die drahtlose Übertragung wegfallen, aber man müsste ein flexibles Substrat verwenden, das man in ein Pflaster integrieren kann.“