Editorial

Auf Augenhöhe

Larissa Tetsch


(08.04.2021) OSNABRÜCK/SEEWIESEN: Für die Kognition wichtige Hirnareale unterscheiden sich bei Vögeln und Säugetieren deutlich im Aufbau. Dennoch schneiden Rabenvögel in Intelligenztests ähnlich gut ab wie Menschenaffen.

Tiere, denen wir Menschen intelligentes und vorausplanendes Verhalten zutrauen, sind in der Regel nah mit uns verwandt. Aber auch andere Tiergruppen, darunter sogar Nicht-Säuger, haben außergewöhnliche kognitive Fähigkeiten. Bekannt für ihre Intelligenz sind beispielsweise die Rabenvögel, zu denen die Krähen, Elstern und Häher gehören. Eine breit angelegte Studie zu den kognitiven Fähigkeiten des größten in Europa lebenden Rabenvogels, dem Kolkraben (Corvus corax), hat kürzlich Simone Pika von der Universität Osnabrück veröffentlicht (Sci. Rep. 10: 20617).

Pika, die seit 2019 den Lehrstuhl für Vergleichende Kognitionsbiologie leitet, erforscht die Entstehung von Intelligenz und Kommunikation. Ihr Interesse an Rabenvögeln wurde vor allem durch Märchen und ein Buch von Bernd Heinrich geweckt: „‚Die Seele der Raben‘ hat mich stark beeindruckt. Besonders auch weil Heinrich so fasziniert von Raben und ihrer Kommunikation war, dass er seine Freizeit damit zubrachte, sie in der wunderschönen Natur von Maine (USA) zu erforschen. Dass Raben etwas Besonderes sind, ist schon sehr früh erkannt worden; sie kommen in vielen Mythen und Märchen vor und zeichnen sich durch Dinge aus, die andere Tiere nicht machen.“ In ihrer Postdoktoranden-Zeit in Schottland lernte Pika dann Thomas Bugnyar kennen, einen ehemaligen Doktoranden von Heinrich. „In dieser Zeit haben wir auf Partys, während andere um uns herum tanzten, stundenlang über Raben geredet. Ich fragte Thomas, wie sie kommunizieren und ob sie auch Gesten nutzen. Daraus entstand unsere erste Kooperation und mein erstes wissenschaftliches Projekt mit diesen wunderbaren Vögeln.“

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Simone Pika erforscht seit Jahren die Intelligenz von Vögeln. In Zukunft möchte sie mehr mit freilebenden Kolkraben arbeiten. Fotos: Jens Küsters

Erstaunliche Intelligenzleistung

Dabei dachten Forscher lange Zeit, dass Vögel gar nicht zu großen kognitiven Leistungen fähig sein können, weil ihnen der sechsfach geschichtete Neocortex fehlt. Dieser bildet den größten Teil des menschlichen Gehirns und wird als Sitz der Intelligenz gesehen. Vor etwa 15 Jahren beschrieb ein Team aus Neurobiologen jedoch bei Vögeln das Pallium, dessen architektonische Struktur an die des Neocortex erinnert (Nat. Rev. Neurosci. 6: 151). „Momentan geht man davon aus, dass nicht mehr nur Gehirngrößen oder -areale, sondern vor allem die Anzahl der Neuronen und deren Konnektivität ausschlaggebend für die kognitiven Fähigkeiten von Arten sind“, betont Pika. „Studien zeigen, dass beispielsweise Papageien und Singvögel doppelt so viele Neuronen aufweisen wie Primatengehirne der gleichen Größe und eine erstaunliche Intelligenzleistung erbringen.“

Tatsächlich verfügen Rabenvögel über überraschende Fähigkeiten, die man lange nur dem Menschen oder anderen Primaten zuschrieb. Ein Beispiel ist die Krähe Betty von der Pazifikinsel Neukaledonien, die spontan angebotenes Werkzeug nutzte, um nach Futter in einem Behälter zu angeln. Sie überraschte die Forscher damit, das Werkzeug sogar selbst zu verändern, um es effizienter einzusetzen. „Kolkraben waren dagegen bisher eher bekannt für ihre sozialen Fähigkeiten und wurden ähnlich wie Schimpansen als ‚politische Manipulierer’ gesehen“, sagt die Kognitionsforscherin. „Im Alter von etwa einem Jahr fangen sie an, Anschluss an Nichtbrüter-Verbände zu suchen, in denen sie bis zu neun Jahre verbringen können. In dieser Zeit gehen sie Koalitionen ein und informieren einander, wo es Futter gibt. Sobald sich Paare jedoch gefunden haben, grenzen sie sich stark von anderen Artgenossen ab und bleiben sich ein Leben lang treu.“

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Das Leben der Kolkraben ist also gleichermaßen geprägt von Kooperation und Konkurrenz. Wie gut Raben wissen, was andere gesehen haben, zeigt etwa die Tatsache, dass sie beim Verstecken von Futter sorgfältig darauf achten, nicht beobachtet zu werden. Wie aber schneiden Kolkraben im Vergleich zu Menschenaffen wie Schimpansen und Orang-Utans ab? Dieser Frage ging Pika mit ihrer Doktorandin Miriam Sima während ihrer Zeit als Gruppenleiterin der Humboldt-Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen nach. „Bis dahin waren sehr viele Einzelexperimente zu unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten von Raben gemacht worden. Wir wollten nun ihre kognitiven Fähigkeiten und deren Entwicklung auf breiterer Ebene verstehen“, so die Studienleiterin. Zusammen mit ihrem Team verwendete sie eine Testbatterie mit 33 verschiedenen Aufgaben, die zur Bewertung der kognitiven Fähigkeiten von Menschenaffen und menschlichen Kleinkindern entwickelt worden war. Die Tests wurden angepasst, da Raben beispielsweise ihre Schnäbel verwenden, um spezifische Aufgaben zu lösen, die für Primatenfinger konzipiert worden waren.

Hütchenspiel für Vögel

Die Aufgaben klopfen zwei kognitive Leistungen ab. „Bei physikalischen Aufgaben geht es allgemein um das Verständnis der Umwelt, also wie Tiere Informationen ihrer Umwelt verwenden und lernen“, erklärt Pika. „Dazu gehören zum Beispiel kausale Zusammenhänge. So haben wir getestet, ob unsere Raben am Geräusch erkennen, welcher von zwei geschüttelten Bechern Futter enthielt.“ Bei einer anderen Aufgabe wurde untersucht, ob die Raben verstehen, dass sie einen Becher mit Futter nicht mehr zu sich heranziehen konnten, wenn das Tuch, auf dem der Becher stand, zerschnitten war. Auch die Fähigkeit zum Abschätzen von Mengen und zur Objektpermanenz wurde abgefragt, also ob die Raben etwa einen Becher mit Futter, der mitsamt seiner Unterlage um 180 Grad gedreht wird, im Blick behalten können. „Dieser Test funktioniert ein bisschen wie das Hütchenspiel, bei dem ein geübter Spieler selbst Erwachsene durch seine Schnelligkeit noch hinter’s Licht führen kann“, vergleicht Pika. Zu den abgefragten sozialen Aufgaben gehören unter anderem Tests, die das Verständnis von Kommunikationssignalen eines anderen untersuchen. Versteht der Rabe, wo der Versuchsleiter hinschaut oder hinzeigt? Achtet er dabei wirklich auf dessen Blick oder eher auf dessen Körperhaltung? Und ist der Rabe in der Lage, sich die Lösung eines Problems beim Versuchsleiter abzuschauen?

Die acht Kolkraben, die an der Studie teilnahmen, waren alle von der Doktorandin Sima und einem Team von engagierten Volontären von Hand aufgezogen worden. Zur Motivation für die Tests wurde den Vögeln begehrtes Futter als Belohnung angeboten, die Teilnahme war immer freiwillig. „Zu handaufgezogenen Raben kann man eine sehr intensive Beziehung aufbauen“, so Pika. „Sie haben dann richtig Spaß daran, Aufgaben zu lösen und mit uns Menschen zu interagieren.“

Das erste Mal testete die Gruppe die Tiere mit vier Monaten, einem Alter, in dem sie beginnen, selbstständig zu werden und sich für ihre Umwelt sowie Individuen außerhalb der Familie zu interessieren. Noch früher zu testen, sei dagegen kaum möglich, wie die Kognitionsforscherin darlegt: „Damit die Tests funktionieren, müssen die Raben schon über gewisse Fähigkeiten verfügen, von ihren Nestgeschwistern separiert werden und auch auf ihren Namen reagieren können. In freier Wildbahn erhalten sie mit vier Monaten noch Futter von ihren Eltern, beginnen aber bereits eigenes Futter zu suchen und mit fremden Artgenossen zu interagieren.“

Die Auswertung zeigte, dass die Kolkraben den Menschenaffen sowohl in physikalischen als auch in sozialen Aufgaben ebenbürtig waren und das sogar bereits im Alter von vier Monaten. Bei den Folgeversuchen im Alter von 8, 12 und 16 Monaten konnten sie sich allerdings nicht mehr verbessern – damit hatten die Forscher so nicht gerechnet: „Zwischen den Tieren gab es individuelle Unterschiede hinsichtlich des Verständnisses und der Motivation. Aber jedes Tier für sich hat sich über die Zeit der Experimente nicht mehr wesentlich gesteigert.“ Genau hier müsse man jetzt eigentlich weitere Untersuchungen anschließen, doch das sei im Moment nicht möglich, wie Pika bedauert: „Frau Sima, eine meiner talentiertesten Doktorandinnen, hat die Forschung inzwischen verlassen, und in Osnabrück habe ich momentan keine Forschungsvolieren.“ Gleichzeitig zeigt sie sich erleichtert: „Die Studie wurde 2014 begonnen und war sehr aufwendig. Bei all dem Herzblut, der Energie und Zeit, die hineingeflossen sind, bin ich froh, dass wir sie jetzt mit der Publikation abschließen und unsere Ergebnisse anderen Forschern zur Verfügung stellen konnten.“

Kolkraben brillieren also nicht nur bei bestimmten Aufgaben, sondern verfügen wie Menschenaffen und Menschen über eine generelle Intelligenz. Auf Basis der verfügbaren Daten hatten die Forscher im Vorfeld der Studie postuliert, dass die Vögel nur im sozialen Bereich mit den Affen mithalten können. „Das war wohl ein wissenschaftlicher Bias“, gibt Pika zu. „Eine generelle Intelligenz bei Rabenvögeln ergibt für uns aber absolut Sinn.“ Immerhin müssten physikalische und soziale Fähigkeiten in vielen Situationen miteinander verbunden sein. „Einerseits muss der Rabe in der Lage sein, Futter zu finden, andererseits muss er es aber auch gegen Konkurrenten verteidigen können.“

Unerwartet schlecht

Unverständlich scheint dagegen, dass die meisterhaften Flieger ausgerechnet bei räumlichen Aufgaben relativ schlecht abschnitten. „Wir vermuten, dass dies eher an den spezifischen Aufgaben der Testbatterie liegt, da diese zum Erforschen der kognitiven Fähigkeiten von Menschen erdacht wurden“, so Pika. „Wir wollten in unserer Studie die Fähigkeiten der beiden Gruppen vergleichen, doch nun müssen wir genauer hinschauen. Vielleicht lösen die Raben räumliche Aufgaben besser, wenn die Tests realistische Probleme in ihrem natürlichen Lebensraum widerspiegeln.“ Außerdem könne es sein, dass die soziale Komponente der Tests unterschätzt werde. „Vielleicht sieht ein Rabe den Versuchsleiter als Konkurrenten, sodass Aufgaben, die wir verwenden, um die physikalische Intelligenz zu testen, auch eine soziale Dimension haben“, vermutet Pika.

Zukünftig würde sie gerne mehr im Freiland mit Kolkraben arbeiten. „Ich hoffe, dass uns die künstliche Intelligenz bald ermöglicht, die Welt von oben – also aus der Sicht der Raben – zu studieren.“ Außerdem würde sich die Forscherin gerne das sogenannte Turn-Taking, das unseren täglichen sprachlichen Interaktionen zugrundeliegt und das sie beim Menschen und anderen Primaten untersucht, auch bei Raben anschauen: „Turn-Taking ist ein bisschen vergleichbar mit Tischtennisspielen, nur dass die Bälle Sätze oder Gesten sind. Vor allem wenn die Raben in festen, kooperativen Partnerschaften zusammenleben, sollte dieses Kommunikationselement eine große Rolle spielen.“