Editorial

Die grünen Hungerspiele

Tobias Ludwig


(10.11.2021) JENA: Das Forschungsteam um Forstwissenschaftler Henrik Hartmann zeigt, dass Bäume strategischer mit ihren Ressourcen umgehen, als bisher vermutet – und wirft damit die bestehende Lehrmeinung über den Haufen.

Gut ein Drittel der deutschen Landfläche besteht aus Wald. Davon ist jeder vierte Baum eine Fichte. Laut Waldzustandserhebung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft aus dem Jahr 2020 zeigen sich besonders bei dieser Baumart die negativen Auswirkungen von Trockenheit und hohen Temperaturen. Um genauer zu verstehen, wie sich veränderte Klimaverhältnisse und zunehmende Wetterextreme auf die Waldbestände auswirken, arbeiten Wissenschaftler seit Jahrzehnten mit Vegetationsmodellen, die das Verhalten der Bäume in Extremsituationen simulieren sollen.

Einige der bisher formulierten Annahmen sind jedoch falsch, wie Henrik Hartmann, Leiter der Gruppe Plant Allocation am Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena, erzählt: „Man ging bisher davon aus, dass Bäume nur die Stoffe speichern, die sie nicht für Funktionen, wie zum Beispiel Wachstum, brauchen.“ In ihrer kürzlich in Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) erschienenen Studie zeigen Erstautor Jianbei Huang et al. jedoch, dass dies so nicht stimmt (118(33): e2023297118).

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Bevor die Fichten-Klone ungehindert in die Höhe schießen dürfen, müssen sie sich einem unbequemen Experiment stellen: In abgeriegelten Kammern dreht das Team um Henrik Hartmann (Seite rechts) am CO2-Hahn und beobachtet, wie die Bäumchen darauf reagieren. Fotos (3): MPI-BGC

Bereits in den 1970er-Jahren beschäftigten sich Ökologen mit der Kohlenstoffverteilung in Pflanzen. Stanford-Professor Harold A. Mooney versuchte beispielsweise als Erster die bisher nur fragmentarisch vorhandenen Kohlenstoff-Routen auf ein Gesamtpflanzenlevel auszudehnen. Die Erkenntnisse wurden in den folgenden Jahrzehnten zwar weiter verfeinert, sind jedoch nur bedingt aussagekräftig.

Das Alter entscheidet

„Die Frage, wie Pflanzen ihre Nährstoffe verwalten, insbesondere Kohlenhydrate, hat man bisher hauptsächlich für kurzlebige Pflänzchen wie Arabidopsis untersucht“, erklärt Hartmann. Für die zweijährige Acker-Schmalwand gäbe es da aber andere Prioritäten als für einen Baum, der mehrere hundert Jahre alt werden kann. Daher beschloss Hartmanns Forschungsteam sich den Kohlenhydrat-Haushalt der Gemeinen Fichte (Picea abies) genauer anzuschauen. Das in Deutschland am häufigsten anzutreffende Nadelgehölz kann bis zu 600 Jahre alt werden, wird aber in der Regel nach einem Jahrhundert gefällt.

Die Jenaer setzten sieben Jahre alte, genetisch identische Fichten einem reduzierten Kohlenstoffangebot aus. Dafür packten die Pflanzenforscher je einen Fichten-Klon in eigens errichtete Inkubationskammern, in denen sie die Kohlenstoffdioxid-Konzentration genau regeln und messen konnten. Mithilfe eines Kompressors, der die Umgebungsluft durch einen Filter presst, entfernten sie sämtliches CO2. Dieses setzten sie anschließend in definierten Mengen zu, die dreieinhalb- bis achtfach unter der atmosphärischen Konzentration des Gases lagen. So hatten die Jungbäume entweder genauso viel CO2 für die Photosynthese zur Verfügung, wie sie über die Atmung wieder verbrauchten, oder sogar weniger. Das nachträglich eingespeiste CO2 wies zudem eine leicht veränderte Isotopenzusammensetzung auf. Damit konnte die Forschungsgruppe später zurückverfolgen, ob Kohlenhydrate aus alten Beständen oder dem in den Inkubationskammern während des Versuchs aufgenommenen Kohlenstoff assembliert worden waren.

„Das Versuchs-Setting simuliert, was passiert, wenn Bäume beispielsweise bei Hitze und Dürre die Spaltöffnungen ihrer Blätter geschlossen halten müssen, um darüber kein Wasser zu verlieren“, erläutert Hartmann. Sind die Stomata geschlossen, bedeutet dies auch eine verminderte Aufnahme von Kohlenstoffdioxid, das normalerweise über die Photosynthese in Form von Kohlenhydraten fixiert wird. Somit können die Bäume ihren Bedarf an Zuckern und langkettigen Kohlenhydraten nicht mehr decken.

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Für einen langlebigen Baum wie die Fichte wäre es nun fatal, wenn er in solchen Situationen seine ganzen Reserven aufbrauchte, sagt der Forstwissenschaftler. „Bäume scheinen ein festgelegtes Programm zu haben, wie in Krisenzeiten mit Nährstoffen umzugehen ist. Statt alle Ressourcen aus dem Speicher zu verbrauchen, verteilen sie Kohlenhydrate so um, dass sie ihre Speicher nicht erschöpfen, denn das nächste Jahr könnte noch schwieriger werden.“ So hielten die untersuchten Jungbäume an der Speicherung von Kohlenhydraten fest, auch wenn sie dafür eigene Biomasse abbauen, sich also selbst verdauen mussten.

Sparen für schlechte Zeiten

In der Verwendung so junger Bäume liegt jedoch auch ein Kritikpunkt der Studie, wie Hartmann einräumt: „Wir haben von den Gutachtern durchaus die Frage bekommen, wie gut sich unsere Ergebnisse auf ‚erwachsene’ Bäume übertragen lassen. Genau sagen, können wir das natürlich nicht.“ Die Jungbäume weisen ein anderes Biomasseverhältnis auf und befinden sich in einer anderen Wachstumsphase. Hingegen sei es umso bemerkenswerter, dass selbst solche jungen Bäume, deren Priorität Wachstum und das Erreichen der Geschlechtsreife sein müsste, unter Kohlenstofflimitierung die Speicherung bevorzugen.

Warum Bäume weiter stur Kohlenhydrate speichern wollen, sei noch nicht völlig klar. An mangelnden Feedback-Mechanismen läge es jedoch nicht, wie Hartmann erklärt: „Die Bäume reagieren durchaus auf den Kohlenstoffdioxidmangel. Sie fahren die Photosynthese und das Wachstum herunter, halten aber die Zellatmung aufrecht.“ Dies zeigten die genetischen Expressionsanalysen der Jenaer. Unendlich lange gehe das jedoch nicht, so der Arbeitsgruppenleiter. Auch ohne Wachstum und Photosynthese gäbe es einen gewissen Grundumsatz, der langfristig nur mit Kohlenhydraten aus den Speichern gesichert werden könne.

Die Ergebnisse aus den kontrollierten Versuchsbedingungen nun auf das Ökosystem Wald zu übertragen, ist jedoch nicht so ohne Weiteres möglich. „Im Wald habe ich diverse andere Einflussfaktoren“, ordnet Hartmann ein. Dort gibt es Schädlingsbefälle, Mikroklima und unterschiedliche Bodenverhältnisse innerhalb eines Bestandes – diese Faktoren unter Laborbedingungen abzubilden, ginge nicht. Doch das war auch nicht das Ziel, wie Hartmann erklärt: „Uns ging es darum, die uns zur Verfügung stehenden Werkzeuge zu verfeinern, die die Entwicklung eines Baumbestandes vorhersagen. Die meisten Vegetationsmodelle sind quellengesteuert, das heißt, der aufgenommene Kohlenstoff wird nach einem festgelegten Schema verteilt und dabei spielt die Speicherung eine untergeordnete Rolle.“

So sagen derzeitige Modelle, dass die in der Photosynthese produzierten Kohlenhydrate zu fixen Prozentsätzen jeweils in das Wachstum der oberirdischen und der unterirdischen Biomasse investiert werden – der Rest wird gespeichert. Zudem landet nur so viel in den Speichern, wie benötigt wird, damit der Baum den Winter übersteht und im Frühjahr neue Blätter treiben kann. Alles, was darüber hinaus in guten Zeiten anfällt, wird einfach über die Atmung „verbrannt“. „Unsere Studie zeigt jetzt aber, dass man dieses Konzept überarbeiten muss. Die Speicherung hat so einen hohen Stellenwert für den Baum, dass er nicht einfach nur die Reste einlagert. Das ergibt bei langlebigen Pflanzen auch Sinn, denn nur so können sie auch in nährstoffarmen Zeiten langfristig ihr Überleben sichern“, erklärt Hartmann. Bereits 2018 veröffentlichten die Jenaer eine kritische Betrachtung der gültigen Annahmen und erkannten die Notwendigkeit für ein Feintuning (Environ. Exp. Bot. 152: 7-18).

Feintuning für das Modell

Die nun im kontrollierten Umfeld gewonnenen Erkenntnisse konnten die Forscher auch bereits in einigen Ringelungsversuchen im Jenaer Umland demonstrieren. Dabei wird die Rinde am unteren Teil des Baumstammes auf einer Breite von mehreren Zentimetern ringförmig entfernt. Der Baum kann so keine Kohlenhydrate mehr vom Blatt in die Wurzel transportieren. Nach der Lehrbuchmeinung müsste der Wurzel nach einer Saison der Kohlenstoff ausgehen und der Baum absterben. „Wir haben die Ringelung 2018 durchgeführt und die Bäume leben immer noch“, fasst Hartmann die Ergebnisse zusammen, die derzeit zur Publikation vorbereitet werden. Eine Entwarnung für den Zustand unserer Wälder sei das jedoch nicht, betont er.

In Zukunft will Hartmann die Komplexität des Waldgeschehens in seinen Betrachtungen besser abbilden und weitere Feldversuche starten sowie sich intensiv mit dem Borkenkäfer beschäftigen. Der Schädling besiedelt in jedem Frühjahr schwache Bäume und kann ganze Bestände befallen. Wie der Borkenkäfer passende Bäume identifiziert, ist weitestgehend unklar. Hartmann: „Wir versuchen gerade herauszufinden, anhand welcher Duftstoffe der Käfer die schwachen Bäume findet. Damit ließen sich bessere Fallen herstellen, denn die bisherigen Pheromon-Fallen wirken erst, wenn die erste Generation Schädlinge sich bereits eingenistet hat.“