Wasser im Weg

Karin Hollricher


Editorial

Marburg: Für Bindungen zwischen Proteinen und Liganden sind Wassermoleküle entscheidend. Darum schauen sich Chemiker und Pharmazeuten diese ganz genau an.

Neutronenkristallografie, Kalorimetrie, Enthalpie, Entropie – das sind die Schlagworte, die den Leser aus dem Artikel von Johannes Schiebel und seinen Kollegen von der Philipps-Universität in Marburg förmlich anspringen (Nat. Commun. 9: 3559). Worte, die ohne Umschweife implizieren: Hier wird’s kompliziert. „Unsere Artikel sind wirklich fast immer sehr hart zu lesen“, weiß Seniorautor Gerhard Klebe, der am Institut für pharmazeutische Chemie der Marburger Uni forscht. „Aber wenn man sich durchbeißt, hat man auch wirklich was davon.“ Okay, die Einladung nehmen wir an.

Klebe und seine Mitstreiter der Arbeitsgruppe Drug Design möchten pharmazeutische Wirkstoffe optimieren – und das nicht erst seit gestern. In Klebes beruflicher Laufbahn drehte sich so ziemlich alles um die Aufklärung und Verbesserung von Medikamentenwirkung: Chemiestudium, ein Jahr an der Neutronenquelle in Grenoble, Postdocs in Kristallografie, über zehn Jahre bei BASF, seit 1996 an der Universität in Marburg und Autor des vielgelobten Lehrbuchs „Wirkstoffdesign“.

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Auch Proteine müssen Wassermoleküle aus dem Weg schaffen, um Liganden binden zu können. Foto: iStock/cactuseskimo

Editorial

Auch in der jüngsten Veröffentlichung seiner Arbeitsgruppe geht es um die vielschichtigen Verhältnisse von Bindungen zwischen Proteinen und Liganden, genauer gesagt um Enzyme und Inhibitoren. Die Experimente sind kompliziert – also suchten sich die Forscher ein „einfaches“ Protein: Trypsin. Dieses Enzym gehört zur Klasse der Serinproteasen und kann durch N-Amidinopiperidin sowie Benzamidin inhibitiert werden.

Ob zwei Moleküle perfekt wie Schlüssel und Schloss zueinanderpassen, wird unter anderem vom Wasser bestimmt, sagen Pharmazeuten und Chemiker. Da zelluläre Proteine in wässriger Lösung arbeiten und entsprechend stark hydratisiert sind, ist es intuitiv eingängig, dass ein Ligand, der binden will, erst einmal Platz schaffen und ein paar Wassermoleküle verschieben muss. Diese These ist jedoch experimentell noch nicht gründlich belegt. Immerhin eine Bestätigung lieferte das Enzym Thrombin, ebenfalls eine Serinprotease, die für die Blutgerinnung wichtig ist. Nachdem einzelne Wassermoleküle aus der Bindungstasche des Thrombins entfernt wurden, verbesserte sich das Bindungsverhalten der Inhibitoren dramatisch. Diese Entdeckung führte zur Entwicklung wirksamerer Gerinnungshemmer.

Starke Bindungen

„Solange wir aber nicht wissen, wo sich Wassermoleküle befinden und wie sich ihre Lage verändert, bleiben unsere Erkenntnisse über die Wechselwirkung zwischen Proteinen und ihren Bindungspartnern lückenhaft“, erklärt Klebe. „Wir mussten die Methoden bis zum Anschlag ausreizen, um das Verhalten von Wassermolekülen am Trypsin zu beschreiben.“ Und damit füllten das Marburger Team samt Kollegen in Genua, Jülich, Hamburg und München 15 Seiten – plus Supplement!

Am Anfang der Bindungsstudie standen thermodynamische Analysen. Auch wenn man schon lange weiß, dass thermodynamische Faktoren das Bindungsverhalten entscheidend beeinflussen, sind sie nur wenig untersucht. Zu kompliziert. Dabei sieht die Formel, mit der man das thermodynamische Geschehen bei der Bindung zweier Moleküle beschreibt, wirklich simpel aus: ∆G° = ∆H° - T∆S°.

Über die Reaktion entscheidet ∆G, der Unterschied in der Gibbs-Energie zwischen freiem und gebundenem Zustand. Dieser Unterschied setzt sich zusammen aus der Differenz der Enthalpie H° und der Entropie S°. Als En­thalpie bezeichnet man alle im System enthaltenen Energien bei konstantem Druck. Entropie beschreibt den Ordnungszustand in einem System. Nach dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik läuft eine Reaktion freiwillig ab, wenn ∆S gegen Null tendiert, G also durch die Reaktion kleiner wird.

Was bedeutet das nun für Proteine und Liganden? Eine starke Bindung ist immer mit einer kleinen Gibbs-Energie verbunden, der Unterschied ∆G zwischen freien und gebundenen Molekülen ist dann deutlich negativ. Diesen Energieunterschied kann man als Wärmeübertrag nachweisen, und zwar mit der isothermalen Titrationskalorimetrie (ITC). Dabei titriert man die Bindungspartner bei konstanter Temperatur und misst mit einem Kalorimeter die Wärmemenge, die entsteht, wenn der Komplex sich bildet. Die Kalorimeter sind heute so empfindlich, dass man damit eine Wärmemenge in der Größenordnung von Mikro­kalorien nachweisen kann. Die Wärmemessung ist ein einfaches Experiment und die Gerätesoftware liefert zuverlässig ∆H°, die Bindungskonstante und so auch die Gibbs-Energie. Damit ist es aber nicht getan. Die harte Nuss ist die Auswertung: Welche Atome beziehungsweise Bindungen liefern welche Beiträge zu welcher Energieänderung?

Wenn ein Ligand ein stark fixiertes Wassermolekül verdrängt und dabei neue hydrophobe Interaktionen entstehen, ist der Entropiegewinn größer, als wenn ein weniger fest gebundenes Wassermolekül weichen muss. „Leider aber arbeiten Enthalpie und Entropie oft gegeneinander“, erklärt Klebe. Für die Optimierung einer Bindung reiche es demzufolge nicht, einen Liganden so zu modifizieren, dass nur die Entropie sinkt. „Man muss die Änderung der Differenzen von Entropie und Enthalpie betrachten.“

An dem thermodynamischen Formelwesen der Trypsin-Inhibitor-Bindung hat sich in Marburg vor allem Tobias Wulsdorf, ein Chemiker mit einem Händchen für Informatik, tüchtig ausgetobt. Er zeigte, dass die im Vergleich zum Piperidin-Inhibitor stärkere Bindung von Benzamidin enthalpisch vorteilhaft ist.

Neutronen gegen Röntgen

Um die Rolle der Wassermoleküle darzustellen, bestimmten die Autoren Kristallstrukturen. Für gewöhnlich nutzt man dafür Röntgenstrahlung. Diese sei aber, so Klebe, zu wenig sensitiv, um die Wassermoleküle genau zu lokalisieren. Deshalb nutzten sie Strahlung aus der Neutronenquelle an der Technischen Universität München. Für die Neutronenkristallografie benötigt man sehr große Proteinkristalle. Diese herzustellen ist eine Kunst. Mit „goldenen Fingern“, schwärmt Klebe, habe der Erstautor und damalige Post-Doktorand Johannes Schiebel Trypsin-Kristalle erzeugt – mit und ohne Liganden. Klebe: „Das Tolle an der Neutronenbeugung ist, dass die Strahlung die Proteinkristalle nicht zerstört und man die Messungen auch mal unterbrechen und danach weiterführen kann. So konnten wir – mit Unterbrechungen – wochenlang an einem Kristall messen und dadurch eine Auflösung von unter 1,5 Angström erreichen. Das sind die am besten aufgelösten Neut­ronenstrukturen, die bisher an Proteinen dieser Größe durchgeführt wurden.“

Damit nicht genug: Die Chemiker bestimmten auch die Röntgenkristallstrukturen. Die große Herausforderung dabei war, die Röntgenmessungen wie die Neutronenbeugung bei Raumtemperatur ablaufen zu lassen, um hinterher die Daten miteinander vergleichen und kombinieren zu können. Klebe: „So konnten wir eine kombinierte X-N-Struktur (Anm. d. Red.: X steht für X-Ray, N für Neutronen) aus den Röntgen- und den Neutronendaten berechnen und mit den thermodynamischen Daten für Computersimulationen nutzen.“

In der Bindungstasche des Trypsins fand das Team rund um das Aspartat 189 neun Wassermoleküle. Drei sind direkt in der Bindungstasche des Trypsin, vier weitere stehen quasi hinter dem Aspartat und dienen als „Reservoir“, wenn eines der inneren Moleküle verloren geht. Was leicht passieren kann, denn die inneren Wassermoleküle sind mit nur jeweils zwei Wasserstoffbrücken nicht so fest gebunden wie die äußeren mit drei. Die übrigen liegen etwas weiter weg.

Die Marburger Forscher zeigten, dass ein Inhibitor beim Binden ein Wassermolekül verdrängt. Als Folge ändert sich die Orientierung eines anderen Wassermoleküls: Es nähert sich dem Tyrosin 228 an, wodurch eine neue Wasserstoffbrücke entsteht. Dadurch wird es stärker fixiert und kann nicht mehr frei rotieren, was eine „entropische Strafe“ nach sich zieht, wie die Autoren schreiben. Diese und viele andere sehr detaillierte Beobachtungen zeigten, welche Wasserstoffbrücken und hydrophobe Interaktionen durch die Komplexbildung gebrochen werden und welche neu entstehen. Klebe: „Wir glauben, dass die Wasserstrukturen im Protein und die Ladungszustände auf dem Aspartat für die unterschiedlichen Bindungsaffinitäten der beiden Inhibitoren an Trypsin verantwortlich sind.“

Stabilere Kristalle

Die Erfahrung, die Klebe im Laufe der vielen Jahre an Universitäten und in der Industrie sammelte, soll künftig nicht ausschließlich in Paper umgemünzt werden. Im März gründeten Ex-Mitarbeiter von Klebe mit seiner Unterstützung die Firma CrystalsFirst. Man will mit einer neuen, als „SmartSoak“ bezeichneten Technologie Proteinkristalle stabilisieren, deren 3D-Struktur ermitteln und damit Software-gestützt die Sammlung von Arzneistoffkandidaten durchgehen. „Auf diese Weise können die für die moderne pharmazeutische Forschung unabdingbaren geometrischen Daten zu einem sehr frühen Zeitpunkt in der Arzneistoffsuche schnell und vor allem zuverlässig geliefert werden, und der hohe Aufwand in der Arzneistoffsuche wird wesentlich verringert“, heißt es in der Pressemitteilung der Firmengründung. Mal sehen, ob sich das bewahrheitet.

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Die (nicht vollständige) Arbeitsgruppe von Chemiker Gerhard Klebe (hinten, geöffnete Jacke) geht gerne auf Entdeckungstour: Besonders angetan haben es ihnen Kristalle – ob in Höhlen oder bei Proteinen. Foto: AG Klebe



Letzte Änderungen: 10.10.2019