Unbekannte Talente

Tobias Ludwig


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Wissenschaftliche Taucher auf Probensuche. Foto: Christian Jogler

Editorial

(09.02.2020) JENA: Auf der Suche nach Antibiotika dringen Forscher in Gebiete vor, in denen noch keiner zuvor gesucht hat – etwa ins bakterielle Phylum Planctomycetales. Diese Prokaryoten müssen allerdings erst einmal kultiviert werden. Dabei stießen Mikrobiologen auf Daten, die nicht nur an vermeintlich feststehendem Wissen über Planctomyceten, sondern auch an allgemeinen mikrobiologischen Dogmen rütteln.

Planctomyceten haben eine durchaus bewegte Geschichte. Nándor Gimesi, ein ungarischer Hydrobiologe, entdeckte sie 1924 und beschrieb sie zunächst als Pilze. Die fehlerhafte Klassifizierung basierte wahrscheinlich auf ihrer ungewöhnlichen Zellmorphologie und ihrer durch Knospung ablaufenden Zellteilung, die so zu diesem Zeitpunkt nur bei Pilzen bekannt war. Erst knapp fünfzig Jahre später reklassifizierte der Kieler Mikrobiologe Peter Hirsch die Planctomyceten als Bakterien. Trotz einiger Kontroversen ob ihrer phylogenetischen Stellung stießen sie bis vor kurzem auf erstaunlich wenig Interesse. Ein möglicher Grund dafür: Vertreter der Planctomycetales gehörten lange Zeit zur sogenannten bakteriellen dunklen Materie, also zu den circa 99 Prozent der Bakterien auf unserer Erde, die sich mit existierende Methoden weder kultivieren noch biotechnologisch nutzen lassen.

Editorial
Ein steiniger Weg

Und dennoch sind die Meeresbakterien perfekte Kandidaten für Christian Joglers Plan. Denn der Professor für mikrobielle Interaktionen an der Friedrich-Schiller-Universität Jena will neue Antibiotika entdecken und zwar dort, wo noch keiner gesucht hat. Doch der Einstieg gestaltete sich zunächst schwierig. „Ich bin damals an die Harvard Medical School zu Roberto Kolter gegangen, um zunächst einmal genetische Werkzeuge für Planctomyceten zu erstellen“, erinnert sich Jogler. „Aber ehrlich gesagt, hatte mir Kolter nach einem Jahr ohne Ergebnisse nahegelegt, doch lieber mit Bacillus zu arbeiten. Ich habe damals zu ihm gesagt ‚Ich mache das weiter‘ und zum Glück hat es am Ende des Tages funktioniert.“

Nachdem es Jogler gelungen war, genetische Werkzeuge für die Modifikation von Planctomyceten zu erarbeiten, etablierte er am Leibniz-Institut DSMZ (Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen) in Braunschweig eine Nachwuchsgruppe, die sich mit drei Aspekten der planctomycetalen Biologie beschäftigte: ihrer Zellbiologie, ihren Sekundärmetaboliten und ihrer Umweltmikrobiologie. „Im Prinzip hat da auch schon die Studie begonnen, die wir jetzt publiziert haben“, verweist Jogler auf eine in Nature Microbiology erschienene Publikation (5:126). „Es waren also sechs, sieben Jahre Arbeit, diese ganzen Proben zu nehmen und die darin enthaltenen Bakterien zu charakterisieren. Ich hatte dann das Glück, Sandra Wiegand als Postdoc für meine Gruppe gewinnen zu können.“

Wiegand, mittlerweile am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), interessierte sich als Computational Biologist neben der außergewöhnlichen Zelldifferenzierung der Planctomyceten insbesondere für die Genome des Phylums und beschäftigte sich so vor allem mit der Funktionsaufklärung der Gene. „Als ich zu Christian stieß, war er gerade dabei, die Genome zu sequenzieren. Circa fünfzig Prozent der Gene waren keiner Funktion zugeordnet. Es war also eine Funktionsaufklärung auf Basis der Genome und das in Zellen, die sich auf eine so interessante Art differenzieren. Das passte für mich super zusammen und so haben wir uns auch inhaltlich gut ergänzt“, blickt Wiegand zurück.

Auf Tauchstation

Doch vor der großflächigen Sequenzierung mussten die Mikrobiologen zuerst auf Probensuche gehen. Dafür bediente sich Joglers Team einer Hypothesen-getriebenen Strategie. Jogler: „Wir haben uns gefragt, welche Eigenschaften Talented Producers in der Regel haben, also Bakterien, die gehäuft kleine Moleküle herstellen können. Da wären zum Beispiel große Genome und eine komplizierte Lebensweise. Dann haben wir uns überlegt, dass marine Oberflächen bisher nicht oder kaum für die Entdeckung solcher Talented Producers herangezogen wurden. Das war die Hypothese: In diesem Habitat leben sie und müssen chemisch um die knappen Ressourcen kämpfen, während die umgebende Wassersäule weitestgehend nährstoffarm ist.“

Ausgehend von diesen Überlegungen beprobte Joglers Gruppe marine Habitate an den unterschiedlichsten Orten, die vom Nordpolar- bis an das Schwarze Meer reichten. Die Probenentnahmen waren teilweise sehr aufwändig und nur mithilfe von Remotely Operated Vehicles, also unbemannten Tauchrobotern und einer Vielzahl wissenschaftlicher Taucher zu schaffen. Anschließend galt es, die Planctomyceten in Reinkultur zu gewinnen. Aufgrund des langsamen Wachstums dieser Bakterien ein nicht gerade einfaches Unterfangen. Mit einem Antibiotika-Cocktail und nach Austesten diverser Kohlen- und Stickstoffquellen sei dies aber für 79 Stämme aller wichtigen Taxa des Phylums Planctomycetes gelungen, so Jogler. Anschließend ging es an die umfassende Charakterisierung der Reinkulturen.

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Christian Jogler und Sandra Wiegand haben sich auf die Suche nach talentierten Antibiotika-Produzenten gemacht. Foto: Anne Günther/FSU (links); Privat (rechts)
Bakterien, nur anders

„Zunächst mussten wir die kurzen Reads sequenzieren. Zusätzlich haben wir mit einer Long-Read-Sequencing-Methode gearbeitet und so nach und nach die Genome ‚geschlossen‘, also vervollständigt“, erklärt Wiegand. Dabei fiel auf, dass die Planctomyceten viele sogenannte Riesengene enthielten, die häufig in Talented Producers vorkommen. Dies sei ein weiterer Hinweis gewesen, dass man sich mit der Antibiotika-Hypothese auf der richtigen Fährte befand.

Im Zuge der Sequenzierung und Funktionsaufklärung machten Jogler und seine Kollegen eine spannende Entdeckung: Dem Team gelang der Nachweis, dass die polare Knospung der Planctomyceten nicht so abläuft wie bisher vermutet. „Sie ist molekular ganz anders gelöst als bei pathogenen Bakterien“, beschreibt Jogler die Beobachtungen. „Alle pathogenen Bakterien, mit Ausnahme der Chlamydien, haben die gleiche Zellteilungslogik und teilen sich mithilfe eines Divisoms aus zwölf Proteinen. Das Protein FtsZ ist dort überall ein zentrales Element – Planctomyceten hingegen besitzen dieses Molekül gar nicht. Wie wir im Rahmen der Studie zeigen konnten, haben Planctomyceten nur das Protein FtsK, das tatsächlich im Divisom von anderen gramnegativen Bakterien konserviert und essenziell ist.“

Zur Bestätigung, dass Planctomyceten tatsächlich neue Antibiotika produzieren könnten, führte Joglers Gruppe diverse bioinformatische Analysen durch. „Wir haben dann zusammen mit Marnix Medema von der Wageningen Universität in den Niederlanden die vorhandenen Biosynthese-Cluster von Antibiotika-Produzenten mit denen der Planctomyceten verglichen“, erzählt Wiegand. Dabei sei vor allem das Taxon Pirellula hervorgestochen. Prinzipiell habe man in den Planctomyceten jedoch weniger Biosynthese-Cluster gefunden als erhofft. Das könne daran liegen, dass der Abgleich nur mit bereits aus anderen Bakterien bekannten Clustern möglich sei, so Wiegand.

Komplex reguliert

Neben bestimmten Biosynthese-Clustern ist auch eine komplexe Signaltransduktion ein Hauptmerkmal von Talented Producers. Zusammen mit Michael Galperine von den National Institutes of Health in Bethesda, USA, analysierte Wiegand daher sogenannte Zwei-Komponenten-Systeme. Das sind Signaltransduktionseinheiten aus einer membranständigen Rezeptortyrosinkinase, die auf äußere Umwelteinflüsse reagiert, sowie einem cytosolischen Response-Regulator, der die nachgeschaltete Signalübersetzung übernimmt. Die untersuchten Planctomyceten wiesen auch hier interessante Eigenheiten auf. Wiegand: „Normalerweise sind die Gene für Rezeptortyrosinkinasen und Response-Regulatoren eins zu eins auf dem Genom verteilt, das heißt für fünfzig Tyrosinkinasen existieren ebenso viele Regulatoren. Bei den Planctomyceten gibt es deutlich mehr Response-Regulatoren, sodass eine Kinase gleich mehrere Regulatoren anspricht und so auch mehrere Regulationskaskaden anfeuern kann.“

Ein weiterer interessanter Aspekt der planctomycetalen Signaltransduktion sind die sogenannten Extracytosolic Function Sigma Factors (ECFs), die in Bakterien die Feinregulation der Signalweiterleitung übernehmen. Diese analysierten die zwei in Zusammenarbeit mit Thorsten Mascher und Daniela Pinto von der Technischen Universität Dresden. Es zeigte sich, dass Planctomyceten überdurchschnittlich viele, oftmals auch bis dato unbekannte ECFs aufweisen, was die Hypothese eines komplex regulierten Lebensstils noch untermauert.

„Eigentlich ist es ziemlich intuitiv, dass die Wahrscheinlichkeit, Neues zu finden, weitaus höher ist, wenn man dort schaut, wo noch keiner gesucht hat. Leider galt und gilt noch oft das Dogma, dass man solche Bakterien nicht oder nur mit erheblichen Schwierigkeiten kultivieren kann. Unsere Studie hat gezeigt, dass man die bakterielle schwarze Materie sehr wohl in Kultur bringen und charakterisieren kann, wenn man hart genug daran arbeitet“, fasst Jogler zusammen. Er und Wiegand sehen in ihrer Studie vor allem eine Art Proof of Concept und ein Plädoyer dafür, die Suche nach neuen Antibiotika und Naturstoffen jenseits der ausgetretenen Pfade fortzusetzen.



Letzte Änderungen: 09.02.2020