Ameisen in Einzelhaft

Larissa Tetsch


Editorial

(12.10.2021) MAINZ: Bei Ameisen, die isoliert von ihren Nestgenossen gehalten werden, sinkt die Abwehrbereitschaft des Immunsystems. Hier zeigen sich erstaunliche Parallelen zu Säugetieren einschließlich des Menschen.

Soziale Isolation – dieses Schlagwort hat durch die inzwischen fast zwei Jahre andauernde ­COVID-19-Pandemie eine ganz neue Bedeutung gewonnen. Obwohl sich erste Tendenzen zu ihren Folgen abzeichnen, ist wohl noch weitgehend unklar, wie die Zeit der Kontaktbeschränkungen bis hin zum vollständigen Lockdown betroffene Menschen in ihrem Verhalten und ihrer Psyche verändert hat. Fest steht jedoch, dass Einsamkeit den Menschen als soziales Wesen nicht nur unglücklich, sondern oft auch krank macht. So nehmen Depressionen, aber auch Entzündungen, Krebserkrankungen und Infektionen zu, während im Gegenzug kognitive Fähigkeiten oft abnehmen. Zudem neigen einsame Menschen auf lange Sicht zu ungesundem Verhalten wie Rauchen oder die Vernachlässigung der eigenen Körperpflege. Im Tierversuch werden Ratten und Mäuse ängstlicher und weniger entdeckungsfreudig, wenn sie von ihren Artgenossen getrennt werden. Und Jungtiere, die ohne ihre Mutter aufwachsen müssen, sind im späteren Leben ebenfalls schlechtere Eltern.

Auch soziale Insekten leben in Gruppen, in denen sie ihre Arbeit aufteilen und für das Überleben aufeinander angewiesen sind. Umso erstaunlicher, dass kaum etwas darüber bekannt ist, wie sie mit sozialer Isolation umgehen. Eine Studie hierzu veröffentlichte kürzlich eine Arbeitsgruppe um Susanne Foitzik. Die Lehrstuhlinhaberin am Institut für Organismische und Molekulare Evolutionsbiologie der Universität Mainz war zuvor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Professorin für Verhaltensökologie.

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Ohne Ameisen läuft in der Arbeitsgruppe von Susanne Foitzik (Mitte in rot) nichts. Illustr.: AG Foitzik. Grosses Bild

Editorial

Im Spannungsfeld dieser beiden Fachgebiete liegen die vielfältigen Forschungsthemen, die die Mainzer aktuell bearbeiten. „Ich interessiere mich für die Evolution des Verhaltens von sozialen Insekten wie Ameisen und Bienen und die molekularen Grundlagen dahinter“, fasst Foitzik zusammen. „Ameisen sind ein Modellsystem für phänotypische Plastizität – also dafür, dass sich trotz des gleichen Genoms ganz unterschiedliche Phänotypen ausbilden können. So untersuchen wir beispielsweise, welchen Einfluss Parasiten wie Bandwürmer auf die Lebenserwartung von Ameisen haben, wie Arbeitsteilung entsteht und wie sklavenhaltende Ameisen und ihre versklavten Wirte gemeinsam evolvieren.“

Ein weiteres Projekt beleuchtet die Frage, inwieweit Ameisen die Gruppe brauchen. „Es gibt keine Ameise, die dauerhaft alleine lebt“, so Foitzik. „Wir haben uns deshalb gefragt, ob die Tiere ihre Nestgenossen brauchen, wenn ihr Überleben nicht davon abhängt. Dafür haben wir Ameisen isoliert gehalten, aber mit Wasser und Honig gefüttert. Wir wollten wissen, wie sich ihr Verhalten, aber auch ihre Genaktivität verändert, wenn sie alleine leben müssen.“ Durchgeführt wurden die Experimente vor allem von Inon Scharf von der Tel Aviv University, der früher bereits drei Jahre als Postdoc bei Foitzik gearbeitet hatte und nun für ein Sabbatical nach Deutschland zurückkehren konnte (Mol. Ecol., doi: 10.1111/mec.15902).

Einsame Ameisen

Als Untersuchungsobjekt fiel die Wahl auf Temnothorax nylanderi, eine in Deutschland heimische Ameisenart, deren kleine Kolonien aus etwa vierzig bis fünfzig Tieren in einer einzigen Eichel Platz haben. Für die Versuche ist das von Vorteil, wie die Studienleiterin erklärt: „Von T. nylanderi lassen sich im Freiland viele Kolonien finden, die wir leicht im Labor halten können. Außerdem sind die Arbeiterinnen mit ein bis zwei Jahren und Königinnen sogar mit bis zu zwanzig Jahren Lebenserwartung sehr langlebig. Sie können aus Erfahrung lernen und zeigen eine große Plastizität im Verhalten. Im Unterschied zu großen Kolonien haben die einzelnen Arbeiterinnen auch eine gewisse Individualität.“

Foitzik und ihr Team sammelten insgesamt 14 Ameisenkolonien mit durchschnittlich jeweils 130 Arbeiterinnen und mindestens 30 Larven, die im Labor ein künstliches Nest bezogen. Rund 500 Arbeiterinnen setzten sie jeweils einzeln in die Arena (eine Petrischale), wo die Tiere entweder für eine Stunde, einen Tag, 7 Tage oder 28 Tage alleine gehalten wurden. Nach der jeweiligen Zeit bestimmten die Mainzer bei einigen Arbeiterinnen das Körpergewicht und analysierten die Transkription im Gehirn, um Veränderungen in der Genaktivität durch die soziale Isolation aufzudecken. Experimente mit anderen Tieren sollten zeigen, ob sich das Verhalten, insbesondere die soziale Kompetenz, verändert hatte. Dazu präsentierten die Forscher den isolierten Ameisen entweder eine Artgenossin aus einem fremden Nest, eine Nestgenossin oder eine Larve aus der eigenen Kolonie. Sie beobachteten außerdem, wie viel Zeit die Tiere mit der eigenen Körperpflege verbrachten, generell aktiv waren oder sich am Rand der Arena aufhielten.

Entgegen der Erwartungen von Foitzik und ihrem Team änderte sich die Aktivität der Tiere allerdings kaum. Auch das Interesse an fremden Artgenossen blieb in etwa gleich. Dafür suchten die Ameisen tatsächlich immer weniger Kontakt zu Nestgenossen, je länger sie zuvor alleine gewesen waren. Um die Versuche nicht durch das Verhalten der eingesetzten Tiere zu verfälschen, waren diese kurz zuvor getötet worden. Da sich Ameisen am Geruch erkennen und dieser auch nach dem Tod noch eine Weile erhalten bleibt, hatte dies auf die Versuchstiere keinen Einfluss. Im Unterschied zu den adulten Nestgenossen wurden Larven nach einer Zeit der Isolation sogar etwas stärker beachtet. Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass Larven im Nest proteinreiche Nahrung für die Arbeiterinnen vorverdauen. „Da unsere Versuchstiere proteinarm ernährt wurden, ist es möglich, dass sie bei den Larven Sekret aufnehmen wollten“, erklärt Evolutionsbiologin Foitzik.

Wenn das Immunsystem leidet

Insgesamt scheinen die Tiere durch die Isolation also etwas weniger sozialkompetent zu werden. „Dass die Verhaltensänderungen so gering waren, hat uns erstaunt“, gibt Foitzik zu. „Am auffälligsten war eigentlich, dass die Tiere sich mit zunehmender Isolation immer weniger geputzt haben.“ Dieses Ergebnis hat durchaus Bedeutung für die Gesundheit der Tiere, denn beim sogenannten Self-Grooming wird der Körper mit den Vorderbeinen geputzt, um Pilze und Bakterien abzustreifen. Außerdem sorgt es dafür, dass Drüsensekret, das den Körpergeruch bestimmt, gleichmäßig über den Körper verteilt wird.

Viel ausgeprägter waren die Veränderungen der Genaktivität im Hirngewebe. Überraschend waren die Ergebnisse auch hier, wie Foitzik erzählt: „Wir hatten erwartet, dass sich vor allem verhaltensbezogene Gene verändern. Zwar wurden Gene für die Produktion der Neurotransmitter Dopamin und Serotonin bei längerer Isolation weniger stark exprimiert, hier hätten wir aber ein stärkeres Signal erwartet.“ Die Daten der Transkriptionsanalyse deuten auch darauf hin, dass isolierte Individuen mehr Juvenilhormon im Körper aufweisen. Das Hormon steuert das Verhalten der Tiere, etwa den Wechsel von Tätigkeiten im Nest wie Brutpflege hin zu Tätigkeiten außerhalb des Nests wie Nahrungsbeschaffung. Die stärksten Veränderungen fanden sich aber bei der Aktivität von Genen, die mit der Funktion des Immunsystems zusammenhängen. Genau wie bei Säugetieren scheint also das Immunsystem bei fehlendem Kontakt zu Nestgenossen zu leiden. „Dies ist eine erstaunliche Übereinstimmung, wenn man bedenkt, dass Insekten und Säugetiere evolutiv weit voneinander entfernt sind“, freut sich die Evolutionsbiologin.

Schneller krank?

Für die isolierten Ameisen bedeutet das, dass sie vermutlich anfälliger gegenüber Infektionen sind. Da sie sich außerdem weniger putzen, sind sie durch das geschwächte Immunsystem besonders gefährdet. Überprüft werden konnte dieser Zusammenhang allerdings in der veröffentlichten Studie noch nicht, weil die Tiere für die Transkriptionsanalyse geopfert werden mussten. Eine aktuell laufende Folgestudie soll aber genau das in den Blick nehmen. „Die Überlebensrate unserer Versuchstiere hat sich durch die Isolation nicht verändert“, so Foitzik. „In unseren laufenden Versuchen wollen wir nun weitergehen. Dafür konfrontieren wir das Immunsystem gezielt mit einer bakteriellen Infektion oder einer künstlichen Verletzung, um zu sehen, ob die Tiere in Isolation weniger gut damit klarkommen.“

Dabei betrachten die Mainzer auch, ob sich das Darmmikrobiom und der Körpergeruch der Tiere durch die Isolation verändern. Ersteres hat einen großen Einfluss auf das Immunsystem, Letzteres lässt Rückschlüsse auf die Physiologie und den Gesundheitszustand der Tiere zu. Falls sich der Geruch der Tiere tatsächlich ändern sollte, stellt sich die Frage, wie die Nestbewohner auf zurückkehrende Artgenossen reagieren.

Bei anderen Ameisenarten könnten die gemessenen Effekte sogar größer sein als bei T. nylanderi, vermutet Foitzik: „Ihre Arbeiterinnen jagen im Unterschied zu Arbeiterinnen anderer Arten meist alleine. Eine gewisse Resistenz gegenüber Einsamkeit ist deshalb anzunehmen.“ Dann fügt die Forscherin hinzu: „Unsere Studie zeigt erstmals, dass Ameisen genau wie Menschen auf soziale Isolation reagieren, indem ihre Immunkompetenz sinkt.“ Dass Einsamkeit krank macht, gilt also wohl auch für Ameisen.

Editorial

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