Kollateralschäden verhindern

Larissa Tetsch


Editorial

(10.12.2021) TÜBINGEN/HEIDELBERG: Antibiotika töten Krankheitserreger, aber oft auch nützliche Darmbakterien. Ein Forschungsteam sucht nach Möglichkeiten, Letztere besser zu schützen.

Durch den Siegeszug der Antibiotika haben seit den 1940er-Jahren unzählige bakterielle Infektionskrankheiten, denen die Menschen früher hilflos gegenüberstanden, ihren Schrecken verloren. Inzwischen wissen wir allerdings, dass Antibiotika auch schwere Nebenwirkungen haben können. So sind vor allem Breitband-Antibiotika, die ja der Bekämpfung einer ganzen Armada verschiedener Erreger dienen, oft zu wenig spezifisch für Pathogene. Auch nützliche Kommensale kommen bei einer Therapie unter die Räder. Dazu gehören in erster Linie die Darmbakterien, die in der Regel nicht nur als Erstes mit antibiotischen Medikamenten in Berührung kommen, sondern die auch besonders wichtige Aufgaben im menschlichen Körper wahrnehmen. Da ein gesundes Darmmikrobiom für die Entwicklung von Immuntoleranz wichtig ist, können Antibiotika-Behandlungen im frühen Kindesalter beispielsweise die Entstehung von Allergien oder Hautkrankheiten wie die atopische Dermatitis fördern.

Besonders gefürchtet sind auch Durchfallerkrankungen, die das opportunistische Bakterium Clostridioides difficile auslöst und die sogar tödlich verlaufen können. C. difficile gehört zwar zur normalen Darmflora, kann sich aber im Darm übermäßig vermehren, wenn andere durch Antibiotika dezimierte Darmbakterien sie nicht mehr in Schach halten können. Aber selbst ohne solch drastische Nebenwirkungen können Antibiotika die Zusammensetzung des Darmmikrobioms deutlich und gegebenenfalls nachhaltig verändern – manchmal mit schwerwiegenden Folgen für den Patienten.

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Illustr.: Adobe Stock/marcovector

Editorial
Darmbakterien im Fokus

Wie ein bestimmtes Antibiotikum wirkt und welche Krankheitserreger dadurch bekämpft werden können, wissen Mediziner heute ziemlich genau. Die meisten nicht-pathogenen Darmbewohner wurde dagegen noch nie darauf untersucht, wie sie auf Antibiotika reagieren. Die Gründe dafür sieht Lisa Maier, die seit 2019 am Exzellenzcluster „Controlling Microbes to Fight Infections“ (CMFI) der Universität Tübingen eine Emmy-Noether-Arbeitsgruppe leitet, unter anderem in technischen Problemen: „Darmbakterien sind zum Teil extrem sauerstoffempfindlich. Sie sind schwer anzuziehen, und gängige Methoden zur Untersuchung der Wirkung von Antibiotika funktionieren bei ihnen nicht.“ Davon hat sich die Mikrobiologin aber nicht abschrecken lassen. Gemeinsam mit Nassos Typas vom Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) in Heidelberg hat sie systematisch untersucht, welche Effekte die verschiedenen Antibiotika-Klassen auf häufige und wichtige Darmbakterien haben (Nature 599: 120-4).

Ein Teil dieser Arbeit stammt noch aus Maiers Heidelberger Zeit als Postdoc in Typas Arbeitsgruppe. „In einer Studie haben wir 2018 untersucht, wie nicht-antibiotische Medikamente auf einzelne Darmbakterien wirken“, erzählt die Tübingerin. „Uns hat sehr überrascht, dass viele nicht-antibiotische Wirkstoffe – insgesamt 24 Prozent von rund 800 getesteten Verbindungen – das Wachstum von Darmbakterien hemmten. Auf klassische Pathogene hatten sie dagegen kaum Einfluss.“

Zu der Wirkstoffbibliothek gehörten auch 144 Antibiotika. „Wir haben dann gemerkt, dass dieser Datensatz an sich schon extrem spannend ist und noch einmal genauer angeschaut werden sollte“, schmunzelt Maier. In der Studie von 2018 hatten die Mikrobiologen die Wirkstoffe nur in einer einzigen Konzentration eingesetzt. Nun wollten sie die minimale Hemmkonzentration der Antibiotika bestimmen, was erheblich aufwendiger ist. Deshalb wählten sie von den 144 Antibiotika 33 aus, die alle wichtigen Wirkungsklassen abdecken, und reduzierten auch die Anzahl der Bakterienstämme von 38 auf knapp die Hälfte. „Da wir im Rahmen der Studie ein Hochdurchsatzscreening für anaerobe Bakterien entwickelt hatten, standen uns jetzt alle benötigten Methoden zur Verfügung“, freut sich Maier.

Antagonismus statt Synergie

Eine Überraschung wartete auf das Team, als Antibiotika aus den Gruppen der Tetrazykline und Makrolide zum Einsatz kamen. „Beides sind klassische bakteriostatische Antibiotika, die aufgrund ihres Wirkmechanismus Bakterien nicht töten, sondern lediglich im Wachstum hemmen“, erklärt die Studienleiterin. „Auf viele Darmbakterien wirken sie aber zum Teil viel drastischer als auf Krankheitserreger.“ So überlebte etwa die Hälfte der getesteten Bakterienstämme eine Behandlung mit den häufig verschriebenen Wirkstoffen Doxycyclin, Erythromycin und Azithromycin nicht.

Diese Ergebnisse könnten laut Maier erklären, warum es nach einer Antibiotikagabe oft zu so drastischen Veränderungen in der Zusammensetzung des Darmmikrobioms kommt. „Das hat uns aufgezeigt, dass man aus Studien an Pathogenen nicht unbedingt darauf schließen kann, wie Antibiotika auf Darmbakterien wirken.“ Dabei ist es sehr wichtig zu unterscheiden, ob ein Antibiotikum lediglich hemmend wirkt oder Bakterien abtötet. Im letztgenannten Fall wird das empfindliche Bakterium nämlich viel leichter vollständig aus dem Mikrobiom eliminiert, wie die Autoren mithilfe von synthetischen Mikrobengemeinschaften zeigen konnten.

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Lisa Maier möchte unsere friedlich gestimmten Darmbakterien besser schützen und erforscht deshalb, welche Medikamente ihnen überhaupt nicht bekommen. Foto: Uni Tübingen/Leon Kokkoliadis

Auch die Idee für den zweiten Teil der Studie entstand aus der Kooperation zwischen Maier und Typas. „Parallel zu unserer Arbeit zeigten die Heidelberger Kollegen, dass eine Kombination von zwei Wirkstoffen oft sehr artspezifisch wirkt“, so Maier. „Wir überlegten uns, dass man sich diese Erkenntnis zunutze machen könnte, um Antibiotika spezifischer und somit verträglicher zu machen.“ Während man also bei der Kombination von Medikamenten meistens auf Synergieeffekte hofft, sollte nun eine antagonistische Wirkung entdeckt werden. Anfangs war die Tübingerin skeptisch. „Am Ende war ich aber überrascht, wie einfach es war, eine solche Wirkstoffkombination zu finden.“

Für die Suche nach einem Antagonisten, dem sogenannten Antidot, kam wieder die Bibliothek mit fast 1.200 Verbindungen der 2018er-Studie zum Einsatz. Um die Anzahl an Kombinationen zu begrenzen, konzentrierte sich das Forschungsteam mit Erythromycin und Doxycyclin auf je ein Makrolid-Antibiotikum und ein Tetrazyklin. Doch welcher mikrobielle Darm-Mitbewohner benötigt am ehesten Schutz? „Es sollte ein häufiges Darmbakterium sein“, antwortet Maier. „Und da Vertreter der Bacteroidetes besonders wichtig sind, fiel die Wahl auf Bacteroides vulgatus und Bacteroides uniformis.“ Insgesamt fand die Gruppe 19 Antidots, von denen sie 14 über eine große Konzentrationsbreite testete. Am Ende blieben zehn Wirkstoffe aus unterschiedlichen Substanzklassen mit starker antagonistischer Wirkung übrig, die gleichzeitig die eigentliche Wirkung des Antibiotikums nicht abschwächten.

Individuelle Therapieansätze

Die Ergebnisse waren so vielversprechend, dass Maier und ihr Team noch etwas weiter gingen. Sie zeigten, dass ihre Antidots die beiden empfindlichen Bacteroides-Arten in einer synthetischen Bakteriengemeinschaft vor einem Antibiotikum schützen konnten, das den Durchfallerreger Enterococcus faecalis beseitigt. Diese Erkenntnis bestätigten sie mit natürlichen Mikrobengemeinschaften aus dem Stuhl von gesunden Erwachsenen und zum Abschluss in einem Mausmodell mit einem definierten, humanisierten Darmmikrobiom aus zwölf Bakterienstämmen. Die Studie sei natürlich nur ein erster Schritt auf der Suche nach Wirkstoffen für eine individualisierte Antibiotika-Therapie, so Maier: „Von einer klinischen Anwendung sind wir noch weit entfernt. Aber wir haben gezeigt, dass die Strategie funktionieren kann.“

Obwohl alle getesteten Wirkstoffe bereits zugelassen sind, ist es nicht in erster Linie das Ziel der Tübinger, eine Antibiotikagabe mit weiteren Medikamenten zu kombinieren, die eigene spezifische Wirkungen oder Nebenwirkungen mitbringen. Stattdessen sollen als Nächstes die molekularen Mechanismen der Antidots aufgeklärt werden. „Wenn wir diese verstehen, können wir gezielt Verbindungen herstellen, die den gleichen schützenden Effekt, aber keine Nebenwirkungen haben“, ist Maier überzeugt. Alternativ könne man versuchen, die Antidots so zu verabreichen, dass sie ausschließlich im Dickdarm wirken.

Zeit für diese Studien hat Maier in Tübingen, denn ihre Stelle wird noch bis 2025 gefördert. Auch für die Zeit danach ist sie zuversichtlich. „Mein Forschungsthema bietet sehr viele Anknüpfungspunkte mit anderen Gruppen, gerade hier an der Uniklinik, wo wir angesiedelt sind. Es gibt noch extrem viel zu verstehen, und ich denke, je mehr Methoden wir für anaerobe Darmbakterien etablieren, desto mehr Neues, Spannendes werden wir noch finden.“ Auch der Zeitpunkt sei für ihre Studien genau richtig, denn inzwischen habe sich ein Bewusstsein für die Bedeutung des Darmmikrobioms gebildet. „Unsere Arbeit zeigt einmal mehr, wie komplex die Interaktionen zwischen Medikamenten und dem Darmmikrobiom sind“, zieht Maier ein Fazit. „Da nimmt ein Mensch ein Antibiotikum und dazu ein anderes Medikament und plötzlich passiert etwas ganz anderes als erwartet.“