Heilsame Narkose

Michael Bell


Editorial

(10.12.2021) GÖTTINGEN: Inhalations-Anästhetika können die Blut-Hirn-Schranke schädigen. Eine neue Studie offenbart jedoch: Richtig dosiert können Isofluran und Co. Krebstherapien effektiver machen.

Der Zufall forscht stets mit. Wer schon lange im Geschäft ist, weiß das nur zu gut. Mitunter sorgen Zufälle sogar für bahnbrechende Entdeckungen. Hätte der Bakteriologe Alexander Fleming 1928 nicht eine seiner Agarplatten im Labor stehen gelassen, bevor er in die Sommerferien verschwand, hätte er wohl nie den sonderbaren Pilz entdeckt, der sich über seine Staphylokokken hergemacht hatte. Fleming isolierte aus dem Nährmedium schließlich das Antibiotikum Penicillin, mit dem man erstmalig bakterielle Infektionen wirkungsvoll behandeln konnte. Eine Schlamperei im Labor, die auf Umwegen unzählige Leben rettete.

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Illustr.: Adobe Stock/decade3d

Wer heutzutage eine Agarplatte nach dem Urlaub wiederentdeckt, kann sie getrost in die Tonne werfen. Die Wissenschaft ist viel weiter, Zufallsfunde wie vor hundert Jahren sind rar gesät. Doch es gibt sie durchaus. Ein interdisziplinäres Team um Gesine Saher vom Max-Planck-Institut (MPI) für Experimentelle Medizin in Göttingen veröffentlichte kürzlich eine Studie über Inhalations-Anästhetika, die auf solch einem Zufallsfund fußt (Neuro-Oncology Advances, doi: 10.1093/noajnl/vdab140). Und so ähnlich wie bei Fleming hat dieser das Potenzial, viele Leben zu retten.

Editorial

Doch der Reihe nach. Nach dem Biologiestudium in Braunschweig promovierte Saher am MPI für Biochemie in München. Es folgte ein Intermezzo in der klinischen Forschung, bis Saher wieder an die Bench wechselte und am MPI in Göttingen anfing. In der Abteilung Neurogenetik mit Fokus Myelin erforscht die Neurobiologin seit vielen Jahren die Rolle von Cholesterin im Nervensystem.

Als Sahers Team mit Myelin-mutierten Mäusen arbeitet, kommt die Überraschung: „Wir wussten aus früheren Versuchen mit Farbstoff, dass die Blut-Hirn-Schranke in unseren mutierten Mäusen durchlässiger war“, berichtet Saher. „Als wir die Tiere im Magnetresonanztomographen (MRT) eingehender untersuchen wollten, war der Effekt nicht mehr zu sehen. Alle Mäuse – egal ob Wildtyp oder mutiert – zeigten plötzlich eine ähnlich hohe Durchlässigkeit.“ Es schien, als bestimmte das MRT-Prozedere das Ergebnis, und nicht der Genotyp der Mäuse. Saher dachte erst an eine Verwechslung. Oder an einen Scherz. Doch es stellte sich heraus: Die mit dem MRT einhergehende Anästhesie der Tiere beeinflusste die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke (BHS).

Ab durch die Mitte

Sahers Gruppe nutzt für ihre Experimente das volatile Anästhetikum Isofluran. Dieses und andere Inhalations-Anästhetika können die BHS dank ihrer chemischen Eigenschaften ungehindert überqueren und ihre narkotische Wirkung im Gehirn entfalten. Isofluran und Co. können die vaskulären Endothelzellen im Gehirn jedoch auch schädigen. Schon vor Sahers Beobachtung wusste man, dass die BHS so durchlässiger wird und ihre Schutzfunktion verlieren kann. Dennoch war offensichtlich niemand auf die Idee gekommen, die Wirkung der Anästhetika auf die BHS-Durchlässigkeit therapeutisch zu nutzen.

Dabei mangelt es nach wie vor an effektiven Methoden, Wirkstoffe ins zentrale Nervensystem zu schleusen. Gerade in der Krebs- und Tumortherapie ist das ein Riesenproblem. Saher merkt an: „Klassischerweise verwendet man Mannitol, um die BHS für den Transit von Arzneistoffen zu öffnen. Die Mannitol-Methode ist aber nicht so gut kontrollierbar. Eine neue und vielversprechende Technik basiert auf fokussiertem Ultraschall. Hiermit wird die BHS effektiv und räumlich präzise geöffnet.“ Das ist aber von Nachteil, wenn der Patient an einem metastasierenden Hirntumor leidet. Hier braucht es eine global durchlässige BHS, um auch invasive Tumorzellen zu attackieren.

Ist das seit Langem bekannte Narkosemittel Isofluran vielleicht die Lösung? Saher und ihr Team testeten zunächst, ob sie die BHS mit dem Anästhetikum überhaupt durchlässiger machen konnten, ohne die Endothelzellen zu schädigen. Dafür legten die Forscher primäre Endothelzellkulturen an und behandelten sie mit verschiedenen Mengen Isofluran. Sie stießen auf eine Dosierung, bei der die Zellbarriere zwar durchlässiger wird, sich die Stoffwechselrate der Zellen aber nicht verschlechtert.

Doch wie schafft Isofluran das? Die Wissenschaftler überprüften die Zell-Zell-Verbindungen der Endothelzellen, die sogenannten Tight Junctions. Diese sind ein wichtiger Teil aller Epithelien und vor allem der BHS, weil sie die Zellzwischenräume abdichten und so eine physikalische Barriere zwischen Blut und Hirngewebe bilden.

Mehrere Immunfärbungen verrieten, dass die Tight Junctions nach der Behandlung noch intakt waren. Also musste Isofluran den Transport über die Zellen selbst beeinflussen. Doch wie genau, war unklar. Sahers primäres Forschungsgebiet wurde nun zum Trumpf. „Wir erforschen in unserem Labor eigentlich Cholesterin, das sich in speziellen Nanodomänen der Plasmamembran, den Lipid Rafts, anreichert. Diese Domänen sind für die Bildung von Caveolin-Vesikeln oder Caveolae verantwortlich“, so Saher und ergänzt: „Wir vermuteten, dass sich das hydrophobe Isofluran in der Membran anlagern und mit den Lipid Rafts interagieren kann. Dank unserer etablierten Methoden konnten wir das schnell prüfen und unsere Hypothese bestätigen“, freut sich die Neurobiologin. Tatsächlich waren die Lipid Rafts in den Endothelzellen nach der Gas-Zufuhr im Schnitt größer, Isofluran manipulierte also die Domänenstruktur der Plasmamembran. Ähnliche Versuche in Mäusen bestätigten die Beobachtung.

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Gesine Saher (li.) erforscht zusammen mit ihrer Doktorandin Lena Spieth eigentlich, wie sich Cholesterin in sogenannten Lipid Rafts anreichert. Die Narkose der dafür benötigten Versuchstiere sorgte dann allerdings für eine ganz andere Überraschung. Fotos (2): AG Saher

Im Mausgehirn sah das Team auch, wie die Membranänderungen den Transport über die BHS konkret beeinflussen. Lena Spieth, Doktorandin in Sahers Labor und Erstautorin der Studie, erläutert die Befunde: „Unter dem Elektronenmikroskop war sofort klar: Die Zahl der Caveolae in der Membran der Endothelzellen war in den Mäusen, die Isofluran inhaliert hatten, viel höher. Die Idee war, dass der Transport mittels Caveolae für die hohe Durchlässigkeit der Tracer in den Endothelzellen verantwortlich ist.“

Die Gruppe wiederholte ihre Experimente in Mäusen, die das Hauptprotein zur Caveolae-Bildung, Caveolin 1, nicht exprimieren. Das Resultat war eindeutig: Fehlen die Caveolae in den Endothelzellen, hat Isofluran keinerlei Effekt auf die BHS-Durchlässigkeit. Die Experimente zeigen auch, wie zeitlich präzise der Isofluran-Effekt ist. Injizierten die Forscher den Tracer nämlich unmittelbar nach der 30-minütigen Behandlung mit Isofluran, zeigte sich keine erhöhte Aufnahme im Gehirn. In anderen Worten: Isofluran beeinflusst die Caveolae-Bildung nur kurzzeitig und völlig reversibel.

Ein weiteres interessantes Detail: Die vielen Caveolae steigerten nicht nur die Aufnahme der Farbstoffe aus dem Blut ins Gehirn. Auch die Level des neuronalen Biomarkers Neurofilament L (NFL) im Blut waren Caveolin-abhängig erhöht. Das bedeutet: Die Durchlässigkeit stieg bidirektional – durchaus ungewöhnlich, denn Caveolae-vermittelter Transport läuft normalerweise nur in Richtung Gehirn ab. Über die Gründe kann auch Studienleiterin Saher nur spekulieren: „Die Membran wird durch Isofluran fluider, sodass wir außergewöhnlich viele Caveolae sehen. Da ist es nicht abwegig, dass sich auf beiden Seiten der Zelle Vesikel abschnüren können. Aber letztlich wissen wir nicht, was dahintersteckt.“

Glioblastomen den Garaus machen

Ungeachtet dessen, hatte die Göttinger Gruppe eindrucksvoll demonstriert, dass Isofluran die BHS reversibel und Caveolin-abhängig manipuliert. Nun stellte sich die Frage, ob sich diese Erkenntnisse auch therapeutisch nutzen lassen – zum Beispiel bei der Behandlung von Hirntumoren. Eine besonders aggressive Art sind Glioblastome. Sie wachsen sehr invasiv, infiltrieren große Teile des Gehirns und lassen sich nur schwer operativ entfernen, was die Überlebenschancen der Patienten drastisch mindert.

In einer benachbarten Gruppe am Universitätsklinikum Göttingen fand das Team ein Glioblastom-Tiermodell, das für die Testreihe prädestiniert war. Die Kollegen nahmen Mäuse vom C57BL/6-Stamm und transplantierten diesen GL261-Blastomzellen direkt ins Gehirn. Der Clou: Die GL261-Zelllinie stammt aus der C57BL/6-Maus, Maus und Zelllinie sind also genetisch identisch. Die GL261-Zellen trugen zudem ein GFP-Transgen, das sie von den endogenen Mauszellen abhebt. Die rasch proliferierenden Zellen hatten schon nach wenigen Tagen sichtbare Tumore geformt.

Das Team verabreichte den Tumor-Mäusen zweimal das Chemotherapeutikum Cisplatin, an Tag acht und elf, jeweils entweder mit oder ohne 30-minütige Isofluran-Exposition. Nach 14 Tagen analysierten Saher und Co. die Tumorgröße, die Zahl der toten Tumorzellen und der migrierenden, also invasiven Tumorzellen. Das Ergebnis: Nur die Kombitherapie aus Isofluran und Cisplatin verbesserte alle drei Werte signifikant, Isofluran oder Cisplatin allein hatten keinen positiven Effekt. Auch die Menge an T-Zellen im Tumorgewebe erhöhte sich, wenn die Kombitherapie zum Zuge kam. „Die Effekte unserer Therapie sind zwar nicht gigantisch, aber doch sehr bemerkenswert. Zumal unser Therapieschema eher zurückhaltend war“, resümiert die Molekularmedizinerin Spieth. „Wir haben die Mäuse lediglich zweimal zu Zeitpunkten behandelt, an denen die Tumore schon eine gewisse Größe und Solidität hatten. Die meisten anderen Studien behandeln früher und häufiger. Wir können also sehr zufrieden sein, die positive Wirkung von Isofluran als Kombinationstherapie ist eindeutig.“

Dem Einsatz im Menschen dürfte eigentlich nicht viel im Weg stehen. Man müsste Tumorpatienten während der Chemotherapie nur routinemäßig anästhesieren. Keine langwierigen Studien sind notwendig, schließlich ist Isofluran bestens bekannt. Ganz so einfach ist es wohl nicht, denn zwischen Tier und Mensch liegen bekanntlich Dimensionen. Und dennoch, Sahers Erkenntnisse sind sehr vielversprechend. Da drängt sich die Frage auf: Konnte das flüchtige Anästhetikum das Herz der Neurowissenschaftlerin erobern? Oder hat Saher schon genug von ihrem Zufallsfund? Die Antwort fällt diplomatisch aus: „Wir fokussieren uns weiter auf die Rolle von Cholesterin und anderen Lipiden im Nervensystem, darin haben wir Erfahrung und Expertise. Aber wir werden das Anästhesie-Projekt weiterführen, so viel steht fest.“ Eine gute Entscheidung; würde vielleicht auch Alexander Fleming sagen. Sein Zufallsfund brachte ihm 1945 immerhin den Nobelpreis für Medizin ein.