Editorial

Nachricht von den Toten

Zell-Assay für zytolytische Toxine

Hubert Rehm


In dem norditalienischen Städtchen Modena reift nicht nur der Balsamessig besonders lange. Auch Mirella Bellocci von der Universität Modena verlässt sich auf eine gut abgehangene Methode - die niemand anderes als unser Autor Hubert Rehm vor mehr als 20 Jahren erfunden hat.

Lang, lang ist's her, da trat ich meine Doktorandenstelle am Münchner MPI für Neurobiologie an. Der Chef drückte mir ein Toxin in die Hand und sagte: "Darüber weiß man so gut wie nichts. Versuch mal rauszukriegen, nach welchem Mechanismus das funktioniert." Also ging ich hin, schlüpfte in meinen eine Nummer zu großen Labormantel, und versuchte rauszukriegen, wie das Toxin seine Wirkungen zustande brachte. Der Wirkungen gab es zwei: Eine elektrophysiologische und eine zytotoxische. Gab man das Toxin auf eine Nerv-Muskel-Synapse, kam es zuerst zu einer vermehrten Ausschüttung von Transmitter und danach zu einer irreversiblen Blockade. Nach einiger Zeit, und das war die zytotoxische Wirkung, löste sich die Präsynapse in ihre Bestandteile auf. Das hatten mehr oder weniger übereinstimmend ein Dutzend Forscher aus England, Taiwan, Italien und den USA festgestellt.

Bei dem Toxin handelte es sich um Beta-Bungarotoxin, ein Bestandteil des Giftes der Schlange Bungarus multicinctus (oder Gestreifter Krait, falls Sie damit mehr anfangen können). Beta-Bungarotoxin oder Betabu, wie ich es bald zärtlich nannte, ist ein Protein mit Molekulargewicht 21. 000. Es besteht aus zwei Untereinheiten, die größere besitzt eine Phospholipase A2-Aktivität, die kleinere ähnelt einem Proteaseinhibitor.

Wie packt nun einer, der keine blasse Ahnung hat und der zudem von einem geleitet wird, der, zumindest was Betabu betraf, ebenfalls keine blasse Ahnung hat, solch ein Problem an?

Elektrophysiologische Methoden kamen nicht in Frage, dazu gab es in der Abteilung weder Geräte noch Expertise. Außerdem hätte ich auch nur wiederholen können, was schon das Dutzend anderer vor mir getrieben hatte. Also was tun?

Ich hockte mich in die Bibliothek und blätterte in Nature, dann in Science und als all die bunten Seiten durch waren, saß ich da und starrte durchs Fenster auf die oberbayrische Wiese davor. Wenn die Synapsen verschwinden, dachte ich in meiner Naivität, dann muss es doch ein Loch in der Zelle geben. Aus dem Loch muss das Zytosol herauslaufen. Dann kann man im Zellüberstand die Enzyme messen und weiß, wie viele und welche Zellen kaputt gegangen sind.


Palythoa

Misst die Wirkung von Palytoxin mit einem Zell-Assay: Mirella Bellocci

Zufall kommt zu Hilfe

Der Zufall wollte es, dass im Gang ein Brutapparat stand, in dem mein Chef Hühnerembryos ausbrütete. Er nutzte sie als Neuronen-Quelle für seine Zellkulturen. Weil ich irgendwo gelesen hatte, dass Betabu noch viel giftiger ist, wenn es ins Gehirn injiziert wird, und weil ich ebenso irgendwo gelesen hatte, dass die Retina ein Teil des Gehirn sei - ich las damals viel, weil ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte - kam ich auf den Gedanken, auszuprobieren, ob Betabu nicht auch die Zellen der Retina löchern würde. Die komplizierte Zellkultur meines Chefs nachzuahmen fiel mir nicht ein: zu arbeitsaufwändig und zudem starben ihm viele Zellen weg. Einfacher schien es mir, die Retina aus den Augen heraus zu präparieren und in Organkultur zu halten. Dass das möglich sei, weil die Retina so flach ist, hatte ich ebenfalls irgendwo gelesen. Auf Sterilität verzichtete ich, denn die Wirkung des Betabu trat schnell ein; nach einigen Stunden musste sich der Effekt schon messen lassen. Als generellen Indikator des Zelltodes maß ich im Kulturüberstand die Laktatdehydrogenase (LDH), als Indikator des Todes bestimmter Zellen maß ich ihre Marker-Enzyme, zum Beispiel Acetylcholinsynthetase für cholinerge Neuronen oder Glutaminsynthetase für Gliazellen.

Wer beschreibt mein Erstaunen und meinen Stolz, als die Sache tatsächlich funktionierte! Dies nicht nur mit Organ- sondern auch in neuronalen Zellkulturen. So einfach konnte Wissenschaft sein! Es stellte sich heraus, dass Betabu schon in picomolaren Konzentrationen bestimmte Nervenzellen lysierte, Gliazellen aber nicht. Andere Phospholipasen des Typs A2, zum Beispiel solche aus Bienengift, zeigten diese Spezifität nicht. Es stellte sich auch heraus, dass man mit den Ergebnissen eine Publikation schreiben konnte - und dass das Manuskript sogar angenommen wurde (Brain Research 250, 309-319). Mein erstes Paper!

Palythoa
Schön aber giftig: Die Krustenanemone Palythoa wehrt sich mit dem Nesselgift Palytoxin.

Das war im Jahre des Herrn 1982. Die Idee scheint aber immer noch neu zu sein. Jedenfalls erschien im Jahre 2008 in Analytical Biochemistry (374: 48-55) zu meinem nicht geringen Erstaunen ein Artikel mit dem Titel "A cytolytic assay for the measurement of palytoxin based on a cultured monolayer cell line". Die Erstautorin ist Mirella Bellocci aus Modena. Mirella Bellocci! Ein Name, der auf der Zunge schmilzt.

Mirella arbeitet mit Palytoxin. Das ist nach Wikipedia "ein Toxin des Dinoflagellaten Ostreopis siamensis, das auch von der Weichkoralle Palythoa toxica oder Krustenanemonen aus gefressenem Plankton extrahiert und zum Schutz gegen Fressfeinde eingesetzt wird. Bis zur Entdeckung und Strukturaufklärung des Maitotoxins war Palytoxin der größte nicht polymere und nicht aus Aminosäuren aufgebaute Naturstoff mit der längsten ununterbrochenen Kohlenstoffkette (115 Kettenglieder)."

Die alten Hawaianer verwendeten es als Speergift. Palytoxin bindet an die Na+/K+- ATPase und hebt die Richtungsspezifität dieser Ionenpumpe auf. Das stört die osmotischen Verhältnisse ebenso wie das Membranpotenzial und die Zelle platzt.

Man müsste also die Wirkung von Palytoxin mit der gleichen Methode messen können, wie ich sie damals für Betabu entwickelt hatte. Und dem ist auch so:

Bellocci et al. verwendeten die Zelllinie MCF-7, das sind menschliche Brustkrebszellen, die einen Monolayer ausbilden. Die Zellen wurden in 24-Well (je 15 mm) Platten ausgesät und in DMEM kultiviert. Am nächsten Tag wurde Toxin zugegeben und eine weitere Stunde kultiviert. Danach wurde das Medium gegen Phosphat-gepufferte NaCl-Lösung (PBS) ausgetauscht und die Zellen für eine weitere Stunde in den Inkubator gegeben. Jetzt wurde die von den geplatzten Zellen ausgeschüttete LDH (das heißt die LDH in der PBS) gemessen. Die spiegelte die zytolytische Aktivität des Toxins wieder. So ließ sich zum Beispiel die durch Palytoxin induzierte Zytolyse durch Ouabain, einem Blocker der Na+/K+-ATPase, hemmen und nichtzytolytische Toxine, wie Tetrodotoxin, ein Hemmer von spannungsabhängigen Na+-Kanälen, setzten in dem Test auch keine LDH frei.


Warum der Medientausch?

Eines hatte ich jedoch nicht verstanden. Warum tauschte Frau Bellocci nach einer Stunde Inkubation mit toxinhaltigem DMEM den Kulturüberstand gegen PBS aus und inkubierte eine weitere Stunde, bevor sie die LDH bestimmte? Es wäre doch einfacher und auch genauer gewesen, den Kulturüberstand nicht zu wechseln und die LDH nach einer oder zwei Stunden gleich im toxinhaltigen DMEM zu bestimmen. Das enthält zwar noch 10% fötales Kalbsserum, doch das ist normalerweise frei von LDH, kann die Messung also nicht stören. So hatte ich das bei meinen Retina-Organkulturen gemacht und die Ergebnisse waren reproduzierbar und - für biologische Verhältnisse - auch genau gewesen. Ich habe beim Seniorautor der Studie, Gian Paolo Rossini, nachgefragt.

Seine Antwort: "You have been reading the method very carefully and your comments are well grounded: our compliments! You are right about the low levels of LDH activity in FCS, and the observation that omitting the exchange of medium against buffered saline and measure the LDH directly in the medium would make the method simpler.

The medium removal and its replacement by PBS, however, is the key part of the assay: it's the addition of PBS that induces palytoxin-dependent cell lysis, as opposed to cell lysis of already dead cells (perhaps floating in the medium) caused by generic cytotoxic stimuli (p. 52, middle of left column, discussed at p. 54 bottom of left column and top of right column).

The palytoxin effect is of a delayed type (see Habermann's papers: that scientist was really fantastic, I should try to meet him if he is still alive! He must be old now.). At the best of my knowledge, the mechanistic details of his original and clever observations on delayed cell lysis have not been obtained over the years, beyond the recognition that Na+,K+-ATPase is involved. That puzzling feature is the "trick" that we exploited to make such a method appropriate for this group of toxins, as opposed to other cytotoxic compounds, including other algal toxins, and actually it is a step forward as compared to the original hemolytic assay for palytoxin detection, that would detect any lytic toxin (including maitotoxin, for instance)."


Man lernt immer noch dazu. Zum einen, dass der Altmeister der Toxinforschung, Ernst Habermann (1926-2001) - er trug den Spitznamen "Giftzwerg" - in der Szene unvergessen ist. Zu Recht. Habermann publizierte bahnbrechende Ergebnisse und Methoden zu Bienengift (Apamin, Mellittin. MCD-Peptid) und Tetanus- und Botulinumtoxin. Sogar an Betabu hat er sich versucht.

Zum anderen zeigt die Arbeit von Bellocci et al., dass man in einem Toxintest die Wirkungsweise des Toxins berücksichtigen muß und kann.

Ein Tipp für Leute, die sich nun berufen fühlen, die Wirkungsweise eines Toxins in einem zytolytischen Assay zu untersuchen: Nehmen Sie wenn möglich Zellkulturen. Retinas für Organkulturen zu präparieren, erfordert ein Maß an Fingerfertigkeit und eine Geduld, die nicht jedermanns Sache sind. Selbst mir ging die Sache mit der Zeit auf den Wecker. Vielleicht schauen Sie sich zuerst einmal das Video unter www.jove.com/index/details.stp?ID=190 an.








Letzte Änderungen: 05.06.2008