Editorial

Nur die Spitze des Eisbergs

Unerwartete Zusammenhänge

Matthias Faix


Spitze des Eisbergs

Patienten mit klassischen Symptomen bilden nur die Spitze des Zöliakie-Eisbergs.

Die Zöliakie ist eine sehr unangenehme Krankheit, die nur durch eine strenge Diät in den Griff zu bekommen ist. Sie ist aber auch ein Beispiel dafür, dass eine Krankheit sehr viel komplexer sein kann als zunächst vermutet und eine wissenschaftliche Disziplin allein nicht ausreicht ihre Ursachen zu erforschen.

Bereits vor mehr als hundert Jahren beobachtete der englische Kinderarzt Samuel- Gee im Londoner St. Bartholomew's Krankenhaus eine Entwicklungsstörung bei Kleinkindern, die nach der Stillzeit zu einer Wachstumsverzögerung führte. Die ersten Breimahlzeiten lösten bei den betroffenen Kindern heftige Beschwerden und lebensgefährliche Durchfälle aus. Gee nannte die Krankheit Coeliac Affection und schlug bereits 1888 in seinem Paper "On the coeliac affection" eine Diät aus englischem Toastbrot vor, die den Ausbruch der Zöliakie, so die gängige deutsche Bezeichnung, verhindern oder ihre Symptome lindern sollte.

Samuel Gee wusste noch nicht, dass das Klebereiweiß Gluten, das in vielen Getreidesorten vorkommt, die Symptome der Zöliakie auslöst. Heute müssen die betroffenen Kinder eine strenge glutenfreie Diät einhalten. Sogar die Töpfe, in denen ihre Speisen zubereitet werden, sollten nicht mit glutenhaltigen Speisen in Berührung kommen.

Fast hundert Jahre lang dachte man, dass die Zöliakie eine Kinderkrankheit sei. Dann stieß man auf einen Zusammenhang zwischen dem Non-Hodgkin-Lymphom und der Gluten-Unverträglichkeit. Mittlerweile gelten die Ernährungsratschläge für Zöliakiebetroffene deshalb auch im Erwachsenenalter weiter, selbst wenn der Betroffene keine klinischen Symptome zeigt. Diese Ernährungsempfehlung ist umstritten, weil nur jeder dritte erwachsene Zöliakiebetroffene unter akuten Symptomen leidet. Sie zielt jedoch darauf ab, auch Folgekrankheiten, die mit der Zöliakie assoziert sind, zu vermeiden.

Bei Zöliakiepatienten ist die Dünndarmschleimhaut abgeflacht, weil die Zotten, die für die Aufnahme der Nahrung zuständig sind und die Oberfläche des Dünndarmes vergrößern, angegriffen sind. Dadurch kann der Dünndarm Nährstoffe nur eingeschränkt aufnehmen. Hieraus resultiert ein Mangel an Eisen, Folsäure, Calcium und Vitamin B12. Die Folgen sind Müdigkeit und auch eine erhöhte Abortrate (Folsäuremangel). Die Diagnose "Zöliakie" wird deshalb in der Regel durch eine Dünndarmbiopsie abgesichert, die auch Aufschluss über die Art der Schädigung liefert.

Marodierendes Immunsystem

Zöliakie kann sich in sehr unterschiedlichen Krankheitsbildern äußern. Dazu zählen zum Beispiel sekundäre Rachitis, Reizbarkeit und Hauterkrankungen. Besonders interessant ist der Zusammenhang der Zöliakie mit einer Krankheit, die vordergründig nichts mit ihr zu tun hat: Zöliakie tritt häufig zusammen mit Diabetes Mellitus Typ 1 auf. Bei dieser Zuckerkrankheit, die meist schon im Kindes- und Jugendalter auftritt, zerstört das Immunsystem die Inselzellen der Bauchspeicheldrüsen. Die Insulinproduktion fällt dadurch komplett aus. Diesen Amoklauf des Immunsystems können zum Beispiel virale Infektionen auslösen, die die Regulation der Immunantwort durch das Humane Leukozyten Antigen-System (HLA) torpedieren.

Inzwischen hat sich herausgestellt, dass auch die Zöliakie eine Autoimmunkrankheit ist, bei der HLA-Proteine eine zentrale Rolle spielen. HLA-Moleküle binden Peptide aus Fremdantigenen und präsentieren sie T-Zellen. Das entscheidende HLA-Molekül bei der Zöliakie ist HLA-DQ2. Dieses präsentiert den T-Zellen Peptidfragmente des Glutens (a-Gliadin), die von der Gewebs-Transglutaminase (tTg) deamidiert wurden. Hieraus resultiert eine Autoimmunreaktion, die letztlich zur Bildung von Antikörpern gegen die in der Darmschleimhaut sitzende tTg führt.

Während man bei früheren Zöliakie-Tests nach Antikörpern gegen die Glutenuntereinheit Gliadin und das Bindegewebs-Protein Endomysium suchte, testet man heute mit einem ELISA-Test auf Gewebs-Transglutaminase und erreicht damit eine Diagnosesicherheit von 95 Prozent.

Diese verfeinerte Diagnosetechnik wurde 1991 von Faruk Hadziselimovic und Annemarie Bürgin-Wolff von der Kindertagesklinik und dem Institut für Zöliakiediagnostik in Liestal, Schweiz entwickelt (Lentze M.J. et. al. Arch. Dis. Childh. 66: 941-947, 1991). Ihr inzwischen automatisierter Transglutaminase-Nachweis wird seit einigen Jahren weltweit zur Zöliakiediagnose verwendet. Mit der neuen Untersuchungsmethode konnte man auch die Dunkelziffer für Zöliakie in der Gesamtbevölkerung besser eingrenzen. Während von 1200 Menschen einer an Zöliakie erkrankt, trägt jeder zweihunderste die Zöliakie-Anlagen in sich, ohne dass die Krankheit in ihrer klassischen Form ausbricht.

Derzeit versuchen Zöliakie-Forscher mit HLA-DQ-Typisierungen herauszufinden welche DQ-Allele für die unterschiedlichen Ausprägungen der Zöliakie verantwortlich sind. So kommen neben der klassischen Zöliakie, mit den oben beschriebenen gastrointestinalen Symp-tomen, auch Fälle von latenter oder silenter Zöliakie vor, bei der die Betroffenen zwar nicht die typischen Zöliakie-Symptome entwickeln, dafür aber für andere Krankheiten anfällig sind.

Unter der Wasserlinie

Die große Zahl stummer Zöliakie-Fälle verdeutlicht das Eisbergmodell des Epidomologen Richard Logan von der Universität Nottingham. Die sichtbare Spitze des Eisbergs bilden Patienten, die an klassischer Zöliakie leiden. Diese lässt sich mit den gegenwärtigen Diagnosemethoden leicht nachweisen. Unter dem Wasser verbirgt sich jedoch der viel größere Teil des Eisbergs, zu dem Patienten mit silenter oder latenter Zöliakie zählen. Wo sich die "Wasserlinie" des Eisbergs befindet, hängt stark von den Diagnosekriterien und den zur Verfügung stehenden Testverfahren ab.

Helmut Wicht

Glutenfreie Diät: Erlaubt sind Fleisch und Gemüse, aber nur wenige Getreidesorten.

Richard Logan stieß bereits 1989 auf einen Zusammenhang zwischen Zöliakie und dem frühen Versterben an Lymphomen. Von 653 Zöliakiepatienten, deren Todesursache Logans Gruppe mit Sterbetafeln untersuchte, starben 17 an einem Lymphom. Zu erwarten gewesen wären 0.5. Ein Zöliakiekranker hat demnach eine 34 mal höhere Wahrscheinlichkeit an einem Lymphom zu sterben als ein Gesunder. Das Risiko an einem Lymphom zu erkranken ist im Grunde noch höher, denn die Auswertung von Logan basierte wie erwähnt auf Sterbetafeln.


Datenpuzzle

Das spannende an der Zöliakie-Forschung ist die Suche nach den einzelnen Komponenten (HLA-DQ-Allelen), die die unterschiedlichen Symptome und Ausprägungen der Krankheit auslösen. Dabei nutzen Bioinformatiker die unabängige Komponentenanalyse (ICA), die man auch für die Signalrückverfolgung bei Elektro-Enzephalographie-Signalen einsetzen kann. Dazu speichern sie die Daten, die sie zum Beispiel aus Patienten-Screenings erhalten in Datenbanken und versuchen die einzelnen Komponenten aus den Datenkuben herauszufiltern. Die Daten fallen teilweise als "Abfallprodukt" von Zöliakie-Behandlungen an, aber auch Arztbriefe und Feldstudien bergen ein gewaltiges Daten-Potential. Mit bioinformatischen-Methoden wie der unabhängigen Komponentenanalyse lassen sich die zunächst unzusammenhängend erscheinenden Daten dann verknüpfen.

Wie das Beispiel der Lymphom-Anfälligkeit Zöliakiekranker zeigt, können dabei auch völlig unerwartete Zusammenhänge auftauchen, die mit klassischen genetischen oder biochemischen Methoden verborgen blieben.


Letzte Änderungen: 29.12.2008