Editorial

Werden Sie Forschungsförderer!

Ulrich Dirnagl


Narr

Sicher, das Peer-Review-Verfahren hat sich irgendwie bewährt. Doch leider verdampfen dabei viel zu viele Ressourcen. Warum schwenken wir nicht einfach um zu einer ungleich schlankeren Peer-to-Peer-Förderung?

Es ist Samstagmittag, die Sonne scheint. Ich begutachte gerade neun Anträge einer Ausschreibung eines deutschen Ministeriums (jeweils etwa 50 Seiten). Die Begutachtung von vier Anträgen einer internationalen Stiftung (jeweils etwa 60 Seiten) konnte ich zum Glück bereits letzte Woche abschließen. Zwischendurch schreibe ich zur Entspannung (haha!) an einem eigenen DFG-Antrag, und an einem für die EU. Wie viele Artikel-Begutachtungen ich überdies zugesagt, aber noch nicht abgeliefert habe... – darüber habe ich den Überblick verloren. Aber morgen ist ja Sonntag, da kann ich auch noch was wegschaffen.

Kommt Ihnen dieses Programm bekannt vor? Liegen Sie auch gut im Mittel derjenigen Wissenschaftler, die nach verschiedenen unabhängigen Statistiken etwa vierzig Prozent ihrer Arbeitszeit mit Begutachten oder Antragschreiben zubringen? Na ja, eigentlich ja auch kein Problem: Der Tag hat 24 Stunden, und für die Forschung bleibt ja noch die Nacht...

Aber Schluss damit, ich will nicht klagen! Ich will lieber einen Vorschlag machen, wie man deutlich mehr Zeit für’s Forschen gewinnen würde. Interessiert? Okay, ist aber was für starke Nerven! Ich werde nämlich eine Lanze für das Gießkannenprinzip brechen – und Ihnen eine Idee schmackhaft machen, nach der Forschungsgelder nicht mehr auf Antrag, sondern als Grundförderung für alle vergeben werden. Mit der kleinen Modifikation, dass die erhaltene Förderung zum Teil an andere Forscher weitergegeben werden muss.

Klingt total verrückt? Nach NFG (Nordkoreanischer Forschungsgemeinschaft)? Mal sehen...

Blicken wir zuerst auf das gegenwärtige System: Forschungsgelder werden auf Antrag vergeben, über den jeweils per Peer Review entschieden wird. Hat sich zwar irgendwie bewährt, aber wir alle kennen die Schwächen. Die wichtigste wurde eben schon angedeutet: Es verschlingt unglaubliche Ressourcen – beim Schreiben der Anträge, beim Begutachten derselben, in der ganzen Administration des Prozesses.

Selbst unter günstigsten Bedingungen werden ja weniger als die Hälfte aller Anträge bewilligt, häufig liegt die Quote deutlich unter zehn Prozent. Bei jeder Ablehnung sind alle eingesetzten Ressourcen letztlich verschwendet.

Vorbei sind die Zeiten, als ein Otto Warburg an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, dem Vorläufer der DFG, seinen legendären Einzeiler schreiben konnte: „Benötige 10.000 Reichsmark“. Fertig war der Antrag – und natürlich wurde er auch bewilligt.

Heute schreiben wir Wochen bis Monate lang an Anträgen, in denen wir taktisch vorgehen, teils bereits Durchgeführtes beantragen und dies mehr oder weniger originell aufhübschen. Dann machen sich Gutachterkollegen („Peers“) darüber her, die das natürlich wiederum erheblich von der eigenen Arbeit ablenkt. Und all das für etwas von recht unvorhersehbarem Ausgang, wenn es denn tatsächlich Wissenschaft sein soll...

Vor allem wenn etwas wirklich Originelles beantragt wird, das geplante Projekt also „risikoreich“ ist, bleiben Antrag und damit die Innovation leicht auf der Strecke. Gefördert wird das Machbare, nicht das Mögliche – also bevorzugt das Mittelmaß, das Konventionelle, das Inkrementelle. Und dies auch oft nach dem Matthäus-Prinzip („Denn wer da hat, dem wird gegeben…“ – Mt 25,29), weshalb unter anderem auch das Durchschnittsalter der Antragsteller bei der DFG seit vielen Jahren immer weiter ansteigt. Oder weshalb heute fast jeder Nobelpreisträger den Spruch los wird: „Heute würde meine damalige Forschung, die mich jetzt nach Stockholm gebracht hat, nicht mehr gefördert.“

Einsteiger und Leute, denen was wirklich Neues einfällt, haben es schwer – „Vierzehnender“ mit großen Arbeitsgruppen dagegen viel leichter. Von Interessenskonflikten, professionellen Seilschaften oder gar Fehden, die bei der Begutachtung eine Rolle spielen könnten, will ich gar nicht reden. Wir alle kennen diese Probleme, schwadronieren auch gerne beim Bier mit Kollegen darüber – insbesondere wenn uns mal wieder ein Antrag abgelehnt wurde. Und tatsächlich wird ja das zugehörige Bauchgefühl durch eine umfangreiche Literatur mit empirischer Evidenz untermauert, die unsere schlimmsten Befürchtungen bestätigt.

Aber ginge es denn überhaupt anders?

Seit einiger Zeit wird ein Verfahren zur Allokation von Forschungsmitteln diskutiert, welches so radikal anders funktioniert, dass man es zunächst für einen Scherz halten könnte. Und die Schellen des Narren klingeln hört. Wenn man allerdings ein bisschen darüber nachdenkt, erkennt man durchaus den immensen Charme, der in der Sache liegt.

Vom Kern her lehnt sich das Verfahren an den berühmten Page Rank-Algorithmus von Larry Page and Nicolas Brin an, mit dem bei Google Webseiten bewertet werden. Dessen Idee geht folgendermaßen: Jeder Wissenschaftler im System erhält eine Grundförderung, beispielsweise 100.000 Euro pro Jahr. Ohne weitere Bedingungen. In den USA könnte das Geld von den National Institutes of Health (NIH) kommen, in Deutschland von der DFG. Allerdings muss jeder Geförderte von dieser Summe einen bestimmten Teil, sagen wir die Hälfte, an einen oder mehrere andere Wissenschaftler im System weitergeben. Natürlich anonym über die zentrale Instanz, die auch die Grundförderung vergibt.

An wen würde man die Mittel weiterreichen? Die Kriterien dafür setzt sich jeder selbst, naheliegend sind aber Originalität, Qualität, Relevanz, et cetera. All die Dinge, die wir ja auch beim Peer Review zugrunde legen (sollten). Natürlich würden die üblichen Regeln gelten – das heißt, es dürfte niemand aus der eigenen Institution sein, niemand, mit dem man Ko-Autorschaften hat, und so weiter. Und wer auf diese Weise zusätzliche Fördermittel erhält, muss hiervon auch wieder einen bestimmten Anteil – es könnte etwa wieder die Hälfte sein – an andere weitergeben. Das Ganze wäre folglich eine Peer-to-Peer-Förderung – es würden Wissenschaftler und nicht Projekte gefördert.

Wie würden sich die Mittel in einem solchen System verteilen? Analog zum Google’schen Page Ranking würden umso mehr Mittel bei denjenigen Wissenschaftlern ankommen, die von den Peers für die vielversprechendsten, tollsten, besten, und so weiter… gehalten werden. Die eingesparten Mittel wiederum könnten zumindest teilweise an die Institutionen der Geförderten weitergegeben werden, die davon Core Facilities finanzieren müssten. Dadurch würde für die „Grundgeförderten“ und ihre Arbeitsgruppen eine Forschungsinfrastruktur entstehen, von der man heute nur träumen könnte. Vor allem wenn man an einer Universität arbeitet...

Dieses System wurde am anschaulichsten und ausführlichsten von Johan Bollen und Kollegen beschrieben. Diese Autoren haben das System auch in einer Simulation „getestet“, und zwar durch Anwendung des Prinzips auf die Datenbank aller vom NIH Geförderten. In der Datenbank finden sich natürlich keine Angaben, wer wem wie viel an Fördermitteln übertragen würde. Als Surrogat dafür wählten die Autoren daher Zitationen – nach dem Prinzip: Wen man viel zitiert, den findet man wichtig, dem würde man auch Geld geben. Sie wählten eine Grundförderung von 100.000 US-Dollar, was etwa der durchschnittlichen Förderung des NIH pro Forscher und Jahr entsprach.

Und siehe da: Peer-to-Peer-Förderung führte in der Simulation zu einer sehr ähnlichen Verteilung der Mittel wie diejenige des NIH via Peer Review. Aber: Ohne Antragsschreiberei, ohne Review-Prozess und ohne die ganze Last der Organisation des jetzigen Systems! Und wenn man die Mittel jetzt eben nicht via Zitationen, sondern auf Basis der Wertschätzung von Kollegen verteilte, würde das System nicht nur massiv Ressourcen sparen, sondern wahrscheinlich auch noch innovativere und relevantere Forschung fördern.

Das Verfahren ist überdies in hohem Masse steuerbar – vor allem durch die Höhe der Grundförderung, wie auch durch die Höhe der Quote für die Weitergabe an Andere.

Aber lädt das System nicht zu Absprachen, Seilschaften, und so weiter ein? Na ja, als ob es das nicht jetzt auch schon gäbe. Allerdings sollte es in diesem neuen System viel einfacher sein, solches Gaming aufzudecken: Auffällige Muster in den Mittelflüssen wären sicherlich leichter identifizierbar.

Ist die Einführung einer solchen Peer-to-Peer-Forschungsförderung realistisch? Würde es ein großer Fördergeber wagen, das gegenwärtige System, das zwar mängelbehaftet und extrem ressourcenintensiv ist, aber doch funktioniert, gegen etwas Unerprobtes auszutauschen?

Anders ausgedrückt: Meint es der Wissenschaftsnarr wirklich ernst? Ja, in der Tat – denn man könnte so ein System parallel zum existierenden modellhaft erproben. Mit den Parametern spielen, klein anfangen und es langsam hoch skalieren. Das wäre doch mal ein Antrag an die DFG! Vorher muss ich aber heute noch die neun Anträge fertig reviewen...

(Wer es bis hierher geschafft hat und zumindest nachdenklich geworden ist, ob an der Idee was dran sein könnte, der sei herzlich eingeladen, die Originalarbeiten unter http://dirnagl.com/lj einzusehen.)



Letzte Änderungen: 25.06.2018