Editorial

Frage nicht, was das Experiment für Dich tun kann – frage, was Du für das Experiment tun kannst!

Ulrich Dirnagl


Narr

Der Nobelpreis ist das ultimative Argument für den Individualismus und gegen echte Kollaboration. Wie echte Kollaboration überhaupt geht? Schaut mal rüber zu den Physikern!

Eigentlich wollte ich diesmal die Physik als Vorbild herausstellen. Als Champion einer Publikationskultur und einer Team Science, von dem wir in den Lebenswissenschaften viel lernen könnten. Und dann geht der Physik-Nobelpreis an die drei (!) Herren Weiss, Barish und Thorne – für den „experimentellen Beleg“ der von Albert Einstein 1919 vorausgesagten Gravitationswellen. Publiziert in einer Arbeit mit mehr als 3.000 Autoren!

Klar, ist wieder viel kritisiert worden am Nobelpreis. Dass ihn stets „alte, weiße Männer bekommen, die an US-Universitäten lehren“. Oder daran erinnert, dass der gute Herr Nobel eigentlich bestimmt hatte, dass nur einer pro Gebiet ausgezeichnet wird – und das auch nur für eine Entdeckung im zurückliegenden Jahr.

Geschenkt! Viel schwerer wiegt, dass der Nobelpreis damit abermals ein absolut antiquiertes Bild von Wissenschaft fortführt: Die einsamen, genialen Forscher, von denen es nur wenige – genauer gesagt maximal drei pro gepreistem Gebiet – gibt, die für die „Menschheit den größten Nutzen geleistet haben“. Verliehen mit einem Spektakel, das einem Eurovision Song Contest oder der Oskar-Verleihung alle Ehre macht.

Es wundert mich nicht, dass dies von der Öffentlichkeit begeistert aufgenommen wird. Dort hat man diese Cartoon-hafte Vorstellung von Wissenschaft ja sowieso spätestens seit dem bereits erwähnten Albert Einstein. Zumal dieses Bild der Wissenschaft von Newton bis zum Zweiten Weltkrieg, also vor der Industrialisierung und Professionalisierung von Forschung, auch durchaus Berechtigung hatte.

Beunruhigend finde ich aber, dass sich die wissenschaftliche Community in großem Stil auf diesen Anachronismus einlässt. Sicher, Sie werden nun fragen: „Na und, warum regt sich der Narr darüber jetzt auf?“ Die Preisträger sind dennoch fast immer preiswürdig. Und schaden kann der Wissenschaft ein wenig PR in den heutigen postfaktischen Zeiten, in der Impfgegner und Klimawandel-Leugner fröhliche Urstände feiern, wohl auch kaum.

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Für den Narren lohnt es sich dennoch, den Nobelpreis zu hinterfragen, da dessen Bild von der Wissenschaft als Sache von vereinzelten Genies komplett an der Sache vorbeigeht. Abgesehen davon, dass Rückständigkeit am Ende allemal wissenschaftsfeindlich ist.

Natürlich gibt es diese Ausnahmewissenschaftler. Und ihr Beitrag ist wichtig. Aber der Fortschritt der Wissenschaften basiert doch wesentlich auf der Leistung vieler, ebenso origineller wie fleißiger Forscherinnen und Forscher. Die dann am effektivsten vowärts kommen, wenn sie zusammenarbeiten. Und „normale Wissenschaft“ im Kuhn’schen Sinn betreiben (siehe LJ 09/17: S. 28-29).

Gerade die internationale LIGO-Kollaboration, die jetzt die Gravitationswellen nachgewiesen hat, ist doch das glatte Gegenteil einer Three Men Show. Sie publizierte ihre Ergebnisse als „LIGO Scientific Collaboration“, mit jeweils über 1.000, manchmal 3.000 Autoren und Hunderten von Institutionen. Und das ist gar nichts Besonderes in der Physik, insbesondere in der Teilchen- und Astrophysik.

Dort erkannte man erstmals im Manhattan Project, dass große, komplizierte und die Grenzen des momentan Machbaren überwindende Projekte nur durch große kollaborierende Teams zu lösen sind. Denn das Projekt zur kriegstauglichen Nutzbarmachung der Kernspaltung stand dazu noch unter massivem Zeitdruck. Und heute gilt folgerichtig der Large Hadron Collider des CERN in Genf als Mustereinrichtung einer multinationalen Forschung zu den großen physikalischen Fragen der Menschheit. Von dort kommen Publikationen mit mehr als 5.000 Autoren, in alphabetischer Reihenfolge.

Publiziert werden deren Arbeiten übrigens nur noch selten in den Prestige-reichen Journalen wie Physical Review Letters oder Nature. Die Physik-Community hatte nämlich mit arXiv schon in den frühen 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts einen Dokumentenserver für Preprints eingerichtet, der heute weltweit als wesentliches Forum der wissenschaftlichen Kommunikation in Physik und Mathematik fungiert. Völlig kostenlos für Autoren und Leser – und ganz ohne Review.

Bei Peer Review-Journals wird heutzutage nur noch ein geringer Anteil der Physik-Artikel eingereicht – und wenn, dann häufig schon mit dem Feedback der Fachwelt aus der Preprint-Phase. Die Publikationslisten der Physiker sind voll von solchen Arbeiten, auch deren „Top 5- Auswahlen“. Häufig ist man da auch nicht namentlicher Koautor. Wie auch, bei Listen mit 1.000 Autoren? Professorwerden oder Anträgedurchbringen kann man dort auch mit arXiv-Papers. Die werden nämlich, wenn sie einen relevanten Beitrag leisten, auch gelesen. Und die Qualität eines Forschers misst sich ganz wesentlich am Beitrag zur Lösung der gemeinsamen Fragestellung.

Man vergleiche dies mit den Lebenswissenschaften. Die dort bearbeiteten Fragen sind in ihrer Komplexität denen der Physik absolut ebenbürtig: Krebs, Demenz, Altern… Auch dies sind große Fragen der Menschheit – und stehen sogar unter größerem Zeitdruck als die Suche nach dem Higgs Boson oder einer Gravitationswelle. Schreit dies nicht nach Manhattan-artiger Kollaboration? Doch hätte man Lebenswissenschaftler auf die Suche nach dem Higgs Boson angesetzt, hätten 20.000 Labore versucht SMALL Hadron Colliders zu bauen – von der Grösse einer Tischzentrifuge!

Wir arbeiten in Gruppen von im Schnitt acht Forschern (inklusive Studenten), die durchweg Arbeitsverträge über wenige Jahre haben – und mit Fördergeldern, die höchstens für drei Jahre gesichert sind. Die Forschungsstrategien und Ergebnisse werden bis zur endgültigen Publikation unter Verschluss gehalten, man könnte ja ge-scoopt werden. Data Sharing? Um Himmels willen. Hab’ ich ja nichts davon, könnte im Zweifelsfall sogar schaden.

Wie verrückt aber ist die Frage, ob sich die grundlegenden Fragen der Biowissenschaften und der Medizin nicht besser in multinationalen, koordinierten sowie ausreichend und langfristig alimentierten Kooperationsprojekten aufklären ließen? Sollte man das wenigstens nicht mal ausprobieren?

Sie verdrehen die Augen? Sie denken an EU-Antragsbürokratie, an AZA-Formulare, endlose Listen von Milestones und Deliverables? Leider nicht ganz richtig, denn die derzeitigen Kollaborationen in den Life Sciences laufen ja gar nicht im CERN-Stil. Es sind vielmehr meist Beutegemeinschaften, die lokale Projekte finanzieren, welche aus anderen Quellen keine Förderung erhalten haben – oder auf diese Weise auffinanziert werden.

Selbst die Genetik kann hier leider kaum Vorbildfunktion haben. Das Human Genome Project war nicht das Manhattan-Projekt der Medizin, auch wenn manch einer das behauptet hat. Dessen Kern war die Verteilung von Sequenzierarbeit über viele Labore. Letztlich war das Auftragsarbeit im industriellen Maßstab – und konnte genau deshalb auch von einer Firma ge-scoopt werden.

Echte Kollaboration im Stile des CERN funktioniert anders. Hier werden Projekte individuell oder gemeinsam entwickelt, dann in einem wissenschaftlichen Diskurs priorisiert, permanent optimiert und im Team durchgeführt. Und das ganze Team bekommt den „Credit“.

Aber warum funktionieren die Lebenswissenschaften so anders? Muss das etwa so sein? Liegt es daran, dass die erwähnten Projekte der Physik nur an Maschinen durchgeführt werden können, deren Anschaffung im Haushalt von nationalen Volkswirtschaften sichtbar werden? Der Zwang zur Kooperation spielt hier sicher eine große Rolle. Es hat aber auch sehr viel mit der Wissenschaftskultur der einzelnen Disziplinen zu tun, die natürlich wiederum von Infrastrukturfragen beeinflusst wird.

Karin Knorr-Cetina hat in Epistemic CulturesHow the Sciences Make Knowledge (Harvard Press) die Organisation und Durchführung von Forschung in der Hochenergiephysik und der Molekularbiologie verglichen. Wie sind jeweils Labore strukturiert, wie werden Gruppen geleitet, wie und auf welchem Level findet „Wettbewerb“ statt, wie wird kooperiert, und so weiter...?

Die von ihr ausgemachten Unterschiede könnten nicht drastischer sein. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Hochenergiephysik (HEP) das „Epistemic Subject“, also den individuellen Wissenschaftler, zugunsten des bedingungslosen Austausches von Wissen aus dem Zentrum des gemeinschaftlichen Forschungsprozesses verdrängt hat. Frei nach dem Motto: „Frage nicht, was das Experiment für Dich tun kann – frage, was Du für das Experiment tun kannst.“

Umgekehrt regieren in der Molekularbiologie nach ihrer Analyse Individuen, deren Forschung auf einer Logik des Austausches beruht. Für jede Handlung wird im Gegenzug eine Leistung erwartet. Weil aber auch in der Molekularbiologie der Fortschritt individueller Forscher von Kollaboration abhängt, entstehen uns allen wohlbekannte Konflikte. Wenn sich ein Beitrag zum Fortschritt des Faches nicht auf ein Individuum zurückführen lässt (zum Beispiel durch Erst- oder Letztautorschaft), ist er für dieses „vergeudet“.

Daraus resultieren dann auch innerhalb eines Labors Probleme und Konflikte, die durch die bekannten Hierarchien in Schach gehalten werden: Doktoranden und Postdocs sind Wasserträger des Gruppenleiters, der Gruppenleiter ist Wasserträger des Einrichtungsleiters (vor allem, aber nicht nur in der Medizin).

All dies existiert in der Hochenergiephysik entweder gar nicht oder nur rudimentär. Hinter der Frage, wie stark in einer Wissenschaftsdomäne kollaboriert wird, lauert eben nicht nur der Anschaffungspreis von Forschungsinfrastruktur, sondern auch gravierende kulturelle Unterschiede der Forschungsorganisation.

Was bedeutet all dies, wenn wir das Potential von Kollaborationen im Geiste von CERN – wenn auch nicht gleich in deren Maßstab – entwickeln wollen? Dass es um wesentlich mehr geht als die Anschaffung gemeinsamer Geräte oder die Verteilung von Work Packages à la EU-Projekt. Unsere Wertschätzung des gemeinsamen Arbeitens an Hypothesen und deren Bestätigung, der Austausch von Material und Rohdaten wie auch das Mitteilen der Ergebnisse müssen sich grundlegend ändern. Solange das Aufsteigen des individuellen Forschers vom Studenten zum Professor einzig und allein von der individuellen Leistung abhängt, und nicht auch oder sogar vor allem vom Beitrag zum Vorankommen des Gebiets, wird das nicht passieren.

Womit wir wieder beim Nobelpreis wären – dem ultimativen Argument für den Individualismus und gegen echte Kollaboration. Dieser Physik-Nobelpreis ist ein Atavismus, weil die Physik schon lange nicht mehr so funktioniert. Warum also nicht einfach – der Wissenschaftsnarr dreht damit jetzt mal völlig frei – die Nobelpreise in Physik, Chemie und Medizin auch an Kollaborationen vergeben, so wie beim Friedensnobelpreis. Das wäre doch ein schönes Signal – auch und gerade für die Lebenswissenschaften.

Weiterführende (und hier teils ohne Angabe zitierte) Literatur findet sich unter http://dirnagl.com/lj.


Letzte Änderungen: 25.06.2018