Editorial

Ist das Wissenschaft, oder kann das weg?

Ulrich Dirnagl


Narr

(08.12.2019) Die kausale Rhetorik ernährungswissenschaftlicher Studien ist doch kaum noch ernst zu nehmen.

Fleischkonsum ist schlecht für die Gesundheit. Da winken Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall,... – das volle Programm. Sagt die Ernährungswissenschaft. Und die muss es ja wissen. Ist schließlich eine Wissenschaft. Oder?

Vor einigen Jahren nahmen sich Jonathan Schoenfeld und John Ioannidis ein normales Kochbuch vor. Daraus wählten sie fünfzig häufig vorkommende Zutaten aus (Zucker, Kaffee, Salz und so weiter) und begaben sich auf eine systematische Literaturrecherche. Konkret fragten sie, ob es ernährungswissenschaftliche Studien gibt, die das Krebsrisiko dieser Zutaten untersucht hatten.

Sie wurden richtig fündig. Zu achtzig Prozent der Zutaten lag eine Studie vor, häufig sogar mehrere. Von 264 dieser epidemiologischen Studien fanden 103, dass das untersuchte Lebensmittel das Krebsrisiko erhöhte; 88 dagegen bilanzierten eine Verringerung des Krebsrisikos! Also hatte Joe Jackson doch recht: „Everything gives you cancer!

Aber kann das sein? Milch? Kalbfleisch? Orangensaft?

Es kommt noch toller: Zwölf Haselnüsse am Tag erhöhen die Lebenserwartung um zwölf Jahre, also ein Jahr pro Nuss! Alternativ kann man drei Tassen Kaffee am Tag trinken, das bringt dasselbe Ergebnis. Eine Mandarine am Tag ist dagegen weniger effektiv: Nur fünf Jahre Lebensverlängerung. Vorsicht ist indes bei Eiern geboten: Eines am Tag, und man lebt sechs Jahre kürzer. Zwei Scheiben Bacon pro Tag kosten einen ganze zehn Jahre – das schafft man nicht mal durch Kettenrauchen.

Auf solche Hochrechnungen kommt man tatsächlich, wenn man sich der Analyse von ernährungswissenschaftlichen Kohortenstudien anschließt und deren kausale Rhetorik ernst nimmt. (Zitate hierzu gibt es wie immer unter http://dirnagl.com/lj)

Da ist es doch beruhigend, wenn man sich auf solidere Evidenz verlassen kann, die zudem auch viel plausibler ist. Wie zum Beispiel die, dass die mediterrane Diät – also Olivenöl, Rotwein et cetera – so richtig gut fürs Herz ist; dass sie also nicht nur schmeckt, sondern dass man mit ihr auch länger bei besserer Gesundheit lebt: Steht im Lehrbuch, in der Bunten – und wurde in einer Großen Studie namens PREDIMED belegt, veröffentlicht im renommierten New England Journal of Medicine. Eine der wenigen interventionellen, kontrollierten und randomisierten Studien in der Ernährungsforschung!

Aber wussten Sie, dass diese Studie zurückgezogen werden musste? Weil es gravierende Protokollverstöße gegeben hatte, und die Daten möglicherweise manipuliert wurden. Außerdem wurde gar keine mediterrane Diät getestet, sondern Nahrungsergänzung. Schwamm drüber, der Gavi und die in Olivenöl angebratene Dorade schmecken trotzdem...

Ein ähnliches Schicksal erlitt zuletzt das verwandte French Paradox. Wir erinnern uns: Trotz höherem Konsum von gesättigten Fetten (zum Beispiel im Käse!) scheinen Franzosen, insbesondere im Vergleich zu Briten, ein relativ niedriges Risiko für koronare Herzerkrankungen zu haben. Wenn das mal nicht am Rotwein liegt, den die Franzosen so lieben! In der medienwirksamen Kurzform also: Rotwein schützt vor koronaren Herzerkrankungen. Endlich mal ein brauchbarer ärztlicher Rat!

In den Jahren nach Veröffentlichung des Paradoxons samt weiterer Studien explodierte der Konsum von Rotwein, insbesondere in den USA. Auch die Grundlagenforschung wurde aktiv: Legionen von Mäusen wurden betrunken gemacht, und isolierte Arterien in diversen alkoholischen Medien gebadet...

Dreißig Jahre nach der Erstbeschreibung und Hunderte von Studien später ist von der Euphorie leider nichts mehr übrig. Das Paradox ist vermutlich ein Artefakt der unterschiedlichen Erfassung von Herzerkrankungen in Frankreich und UK sowie einer zeitlich versetzten Änderung von Essgewohnheiten in beiden Ländern. In jedem Fall konnte letztlich weder Rotwein noch irgendeine andere Ernährungsgewohnheit dingfest gemacht werden. Vom französischen Paradox spricht heute daher in wissenschaftlichen Kreisen diskreterweise niemand mehr.

Auch beim Alkohol stellte sich inzwischen heraus: Der vermeintliche protektive Effekt ist ein statistisches Artefakt (Wie so oft: ungeeignete Vergleichsgruppen und ungenügende Korrektur von „Störfaktoren“, fachbegrifflich: Konfoundern). Und die Chinesen haben dann dieses Jahr mit einer Megastudie (500.000 Teilnehmer, zehn Jahre Nachverfolgung, Genotypisierung,...) die Story vom schützenden Effekt von moderaten Mengen Alkohol endgültig abgekegelt. Jedes Tröpfchen „C2“ ist von einem gesundheitlichen Standpunkt aus eines zu viel. Nachrichten, die zu gut klingen, um wahr zu sein, sind eben häufig genau das: Nicht wahr!

Freilich ist die Ernährungsforschung jedoch keineswegs um neuen gesundheitlichen Rat verlegen. Nun sind es die Omega-3-Fettsäuren, die uns gesund ins hohe Alter bringen sollen! Mit Franz Beckenbauer sage ich da: „Schaun mer mal, dann sehn mer scho!“

Aber wie steht es eigentlich um den eingangs zitierten Konsum von Fleisch – vor allem, wenn es rot ist? Vor Kurzem wurden mehrere sehr große Metaanalysen veröffentlicht, alle in einer Ausgabe der Annals of Internal Medicine. Resultat: Der Einfluss von Fleischkonsum auf die Gesamt-Mortalität oder kardiovaskuläre Resultate ist, wenn überhaupt vorhanden, gering!

Die Liste der Assoziationen bestimmter Ernährungsweisen mit Gesundheit, Krankheit, erhöhter oder erniedrigter Lebenserwartung ist folglich fast endlos. Manchmal bringen Studien zu ein und derselben Ernährungsweise gar entgegengesetzte Ergebnisse. Fast immer jedoch wird aus der behaupteten Assoziation eine kausale Beziehung gefolgert. Die Korrelation des Konsums von Lebensmittel X mit einem bestimmten Ausgang Y wird dann schnell zu: Konsum von X bewirkt Krankheit Y! Dabei weiß jeder, wie viele Faktoren unsere Essgewohnheiten beeinflussen – viele davon in einer unauflösbaren Wechselbeziehung.

In seiner Totalität hat das, was wir essen, natürlich großen Einfluss auf unsere Gesundheit. Aber einzelne Lebensmittel spielen dabei in der Regel eine geringe Rolle. Dazu schwebt über dem Ganzen zudem der sozioökonomische Status – oder weniger verklauselt: Wie viel jemand zum Leben hat. Eine legendäre Studie hat in diesem Zusammenhang einmal den Inhalt von Einkaufstüten an der Supermarktkasse untersucht: Nicht überraschend finden in den Tüten Bier, Wodka, Dosenfleisch und Zigaretten auf der einen Seite zusammen – Rotwein, Olivenöl, Salat und Müsli dagegen auf der anderen Seite.

Wussten Sie, dass in Deutschland laut offizieller Gesundheitsberichtserstattung des Bundes der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen den niedrigsten und höchsten Einkommensgruppen bei Frauen 13,3 und bei Männern 14,3 Jahre beträgt? Der gleiche Befund, nur noch extremer: Zwischen den Endstationen einer U-Bahn-Linie in Chicago (Red Line) nimmt die Lebenserwartung von Nord (dort wohnen die Gutsituierten) nach Süd (dort sind die „Problemviertel“) graduell um dreißig Jahre ab! Ob das wohl am Olivenöl liegt?

Für die Lebensumstände der Leute samt der Tatsache, dass diese mit Essgewohnheiten und genetischen Faktoren in nicht aufzulösende Wechselwirkung treten, können die Ernährungsforscher wahrlich nichts. Ebenso wenig sind sie schuld daran, wenn ihre Ergebnisse in den Medien übertrieben oder sogar verfälscht dargestellt werden. Fast jede größere ernährungswissenschaftliche Studie, die ein gängiges Nahrungsmittel zum Gegenstand hatte, taucht in der Laienpresse auf – oft in reißerischer Aufmachung. Auch können Ernährungswissenschaftler nichts dafür, dass es in ihrem Feld schwierig ist, randomisiert kontrollierte, prospektive Interventionen zu untersuchen.

Wofür die Ernährungswissenschaft aber schon was kann, sind methodische Mängel. Einige davon habe ich oben bereits benannt.

Problematisch ist auch, dass Ernährungswissenschaftler in Gremien sitzen, die häufig auf Basis schwacher Evidenz weitreichende Ernährungsempfehlungen geben. Dazu kommt, dass in der klinischen Medizin insgesamt, aber in der Ernährungswissenschaft ganz besonders, Interessenskonflikte das Design, die Analyse und die Interpretation von Studien stark beeinflussen. Der Einfluss der Nahrungsmittelindustrie auf die medizinische Wissenschaft ist mindestens so groß wie die der Pharmaindustrie. Und das will was heißen.

Zieht man all dies ab – Medien-Hype, Verwechslung von Kausalität und Korrelation, Überschätzung von Effektstärken, Unterschätzung von Wechselwirkungen und Konfoundern –, dann kann man die Ergebnisse der Ernährungsforschung letztlich auf das zurückführen, was uns schon unsere Großmütter mit auf den Weg gegeben haben: Am gesündesten ist eine vielfältige und ausgewogene Diät, nicht einseitig und bloß keine Exzesse. Ein bisschen Obst und Salat, auch mal ein Stück Fleisch, nicht zu viel Fett. Was ein Omnivore eben so braucht. Und weil wir uns viel weniger bewegen als unsere Vorfahren vor ein paar hunderttausend Jahren: Aufpassen mit den Kalorien, auch mal ins Schwitzen kommen! Oder mit Johann Wolfgang Goethe: „Nur durch Mäßigung erhalten wir uns.“

Aber ist das Wissenschaft?

Weiterführende Literatur und Links finden sich wie immer unter: https://dirnagl.com/lj.



Letzte Änderungen: 08.12.2019