Der kreative Grenzgänger

Winfried Köppelle


Editorial

Rätsel

(29.04.2013) Er nennt seine Experimente mit künstlichen Krankheitserregen „eine rein chemische Angelegenheit“; prominente Kollegen nennen sie unverantwortlich.

Vorreiter waren die Bayern: Am 26. August 1807 verordnete König Maximilian seinen Untertanen eine obligatorische Pockenschutzimpfung. Sechzig Jahre später hielt es auch die englische Regierung für angebracht, ihre Bürger vor einer Seuche zu schützen, die in Europa rund 400.000 Opfer pro Jahr forderte und die Überlebenden von Narben entstellt zurückließ.

Als im Herbst 1975 ein Notfallärzteteam auf der Insel Bhola im Süden Bangladeshs eintraf, ahnte allerdings niemand, dass dieser Einsatz eine historische Zäsur darstellen sollte. Denn die heute 40-jährige Rahima Banu Begum, die ein WHO-Fotograf damals als pustelübersätes Kleinkind ablichtete, sollte der letzte Mensch sein, der außerhalb eines Hochsicherheitslabors an Pocken erkrankte. Am 9. Dezember 1979 verkündete die WHO, Orthopoxvirus variola sei vom Antlitz der Erde verschwunden. Das jedoch ist nicht ganz richtig: In den Laboren der amerikanischen Seuchenbehörde CDC in Atlanta und im Institut Vector im russischen Kolzowo lagern bis heute ansteckungsfähige Viruspartikel.

Editorial

Längst haben die Epidemiologen den nächsten Gegner im Visier: eine primitive Proteinkugel, beladen mit nackter Einzelstrang-RNA. Nur noch in äquatornahen Regionen Afrikas und Indiens ist sie anzutreffen – und dank impfmüder Schafsköpfe auch immer wieder in Industrieländern.

Lebensziel zum Greifen nah

Nur wenige kennen diesen Winzling so gut wie ein weißhaariger Amerikaner, der ihn seit mehr als vierzig Jahren studiert. Zusammen mit einem der jüngsten Nobelpreisträger aller Zeiten beschrieb er ihn erstmals 1971 im Journal of Virology. Aus Ostberlin stammend, studierte unser Mann in Rostock Chemie und ging später als DDR-Flüchtling nach Göttingen, ehe er Mitte der 1960er Jahre in die USA emigrierte. In New York leitet er bis heute ein Labor an der State University in Stony Brook.

Den Mechanismus, mit dem die Winzlinge ihr Erbgut vervielfältigen, entdeckte er bereits Ende der 1970er Jahre; die auf ein halbes DIN-A4-Blatt passende Nukleotid-Abfolge folgte 1981. Unser Mann lieferte wesentliche Beiträge zur Entwicklung neuer Impfstoffe, denn er weiß natürlich, wie erschreckend wenig der Knirps im medizinischen Alltag durch gängige Desinfektionsmittel, Detergenzien und Säuren zu beeindrucken ist, und wie erbarmungslos dieser als ungebetener Gast mit denen umgeht, die ihm Zuflucht bieten; wie er ihnen die Muskeln und Gefäße lahm legt und die Gelenke deformiert, nachdem er sich über den CD155-Eingang ins Haus geschlichen hat. Dennoch sei sein Forschungsobjekt außerhalb der Wirtszelle „so tot wie ein Ping-Pong-Ball“, sagt der Gesuchte.

2002 schreckte unser Mann die Weltöffentlichkeit auf. Ausgerechnet er, der geachtete Forscher und Krankheitsbekämpfer, hatte sein Studienobjekt künstlich im Reagenzglas und basierend auf frei im Internet zugänglichen Nukleotidsequenzen fabriziert. „Dieses Manuskript hätte nie veröffentlicht werden dürfen“, tadelten Kollegen und Politiker und malten die Gefahren des Bioterrorismus an die Wand. Ein Moratorium, derart riskante Projekte künftig zu unterlassen oder zumindest nichts darüber zu veröffentlichen, wird seitdem diskutiert. Der Gesuchte hingegen meinte lakonisch: „Viren sind nichts anderes als Chemikalien und können deshalb mit Chemikalien hergestellt werden; ihre Synthese bedroht die Menschheit nicht.“ Nicht zu bestreiten ist, dass der Gesuchte dem weltweiten Bestreben, bestimmte Erreger dauerhaft auszumerzen, einen herben Dämpfer verpasste.

Wie heißt der Mann, der auch mit bald 77 Jahren partout nicht von der Wissenschaft lassen kann, dessen Versuchsobjekte noch immer ihr Unwesen treiben und der unlängst für sein Lebenswerk die Robert-Koch-Medaille erhielt?




Zur Auflösung klicken

Der gesuchte, kreative Grenzgänger ist der deutschstämmige US-Virologe Eckard Wimmer (*1936). Aufgewachsen in der Nachkriegs-DDR, flüchtete er 1956 in den Westen und emigrierte in den 1960ern in die USA. Dort erforscht er seitdem den Poliovirus. Wimmers Arbeitsgruppe lieferte wesentliche Beiträge zu dessen Vervielfältigungs-Zyklus (unter anderem die Identifizierung und Klonierung des CD 155-Rezeptors, an den das Poliovirus auf menschlichen Zellen andockt, sowie diverse Virus-Antigene) und sequenzierte 1981 das Poliovirus-Genom. 2002 schockten Wimmer und seine Mitarbeiter Jeronimo Cello und Aniko Paul die Weltöffentlichkeit mit der Nachricht, ihnen sei die „De-Novo-Synthese infektiöser Polioviren“ gelungen, lediglich unter zuhilfenahme bekannter Sequenzinformationen und ebenfalls längst bekannter „in vitro biochemical manipulations“.