Der fahnenflüchtige Studienabbrecher

Winfried Köppelle


Editorial

Rätsel

(28.10.2014) Mit 34 Jahren verschwand der deutschstämmige Naturforscher in der australischen Wildnis – und wurde auf dem fünften Kontinent zur Legende.

Ihre letzte schriftliche Botschaft ist datiert auf den 3. April 1848. Wenig später brechen die Entdeckungsreisenden am westlichsten Außenposten der britischen Kolonie auf, im Gepäck „Mehl, Tee, Salz, Gewehre, Munition und ein Gemeinschaftszelt“ – und werden nie mehr gesehen.

Zwei Monate zuvor hatte sich die bunte Truppe, bestehend aus zwei Ureinwohnern, fünf Teilnehmern europäischer Herkunft sowie sieben Pferden, zwanzig Mauleseln und fünfzig Rindern, von der Ostküste aus ins Landesinnere aufgemacht. Ihr Ziel: eine gangbare Route quer durch den fünften Kontinent zu finden – ein riskantes Unterfangen von mindestens fünftausend Kilometern quer durch unbekanntes Ödland. In den folgenden hundert Jahren versuchte man immer wieder, ihren Verbleib aufzuklären. Doch außer Felszeichnungen von Ureinwohnern, die angeblich die Verschollenen zeigen, in Bäume geschnitzte Initialen und einer Messingplakette mit dem eingravierten Namen des Expeditionsleiters: nichts.

Editorial

Er war Preuße, geboren kurz nach der Völkerschlacht bei Leipzig, studierte in Berlin und Göttingen Philosophie, Religionsgeschichte und Naturwissenschaften, und siedelte ohne Abschluss nach England über. Ein Jahr später weigerte er sich, zum Ableisten seines Wehrdienstes in die Heimat zurückzukehren. Stattdessen besorgte er sich einen britischen Pass, galt damit als Deserteur, und buchte 1841 nach ausgedehnten Europareisen eine Schiffspassage nach Australien. Ein unerforschter Kontinent wartete.

Ans andere Ende der Welt

Talente besaß er genug. Etwa dafür, seinen Freunden Geld aus der Tasche zu ziehen: Seinen Lebensunterhalt als Student und auch die Reise nach Übersee finanzierte ein ehemaliger Kommilitone. Oder für Sprachen; gleich sechs beherrschte er. Mit 31 Jahren brach der „am besten ausgebildete australische Naturforscher des 19. Jahrhunderts“ zu seiner ersten, durch Spenden gedeckten Forschungsreise auf. Trotz miserabler Ausrüstung, internen Zwistigkeiten und mangelnder Expeditionserfahrung erreichte der Trupp, um ein Mitglied dezimiert, nach 13 Monaten und 4.800 Kilometern quer durch die Wildnis das Ziel. Die Heimkehrenden wurden frenetisch gefeiert: Die lange gesuchte Ost-Nord-Route war gefunden; dazu hatte der Gesuchte eine Vielzahl neuer Tier- und Pflanzenarten, Gebirgsketten, Flüsse und Kohlevorkommen entdeckt. Sein Reisebericht wurde zum Bestseller, und in Abwesenheit verlieh man ihm den Preis der Pariser Geographischen Gesellschaft für die bedeutendste Entdeckung des Jahres. Bereits die sich anschließende, zweite Reise wurde zum Fiasko: Infernalische Regenfälle, fortwährende Krankheiten sowie die zunehmende Rebellion seiner Begleiter ließen das Unternehmen nach „nur“ 800 Kilometern scheitern. Sein Ziel, eine Ost-West-Passage zu finden, gedachte unser Mann mit einer dritten Reise zu erreichen – mit dem bekannten tragischen Ende.

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In seiner Wahlheimat wurde der verschollene Deutsche zur Legende: Stadtteile von Sydney und Brisbane sind nach ihm benannt; auch Wasserfälle, ein Berg, Flüsse, Bäche und ein Staudamm, ein Kohlebergwerk und ein Fußballclub. Auf Briefmarken, Gedenkmünzen und Denkmälern prangt sein Bild. Ein Sägefisch, eine Buschbanane und eine Heuschrecke tragen seinen Namen; ja selbst eine amerikanische Metal-Band widmete ihm das titelgebende, elf Minuten lange Stück ihres letzten Albums.

Wo aber liegt sein Leichnam? Am ehesten irgendwo in der Nähe des Lake Gregory – und das würde bedeuten, dass es dem Gesuchten mit primitivsten Mitteln gelang, mindestens zwei Drittel seiner geplanten Wegstrecke quer durch den australischen Kontinent zurückzulegen, ehe er und seine Gefährten am Rande einer der großen Wüsten umkamen. Wie heißt er?




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Der gesuchte, fahnenflüchtige Studienabbrecher ist der deutsche Naturforscher und Australien-Forscher Ludwig Leichhardt (1813-1848). Der in Brandenburg geborene Weltenbummler schrieb sich in Göttingen, Berlin, London und Paris unter anderem für Medizin, Zoologie und Botanik ein, beendete aber keins dieser Studien, sondern schiffte sich als 28jähriger mit dem Ziel „Australien“ ein. Den damals unerschlossenen Kontinent zu erforschen, in den „Kern der dunklen Masse” vorzudringen, widmete er sich den Rest seines kurzen Lebens. Seine spendenfinanzierte, erste Australienexpedition (1844-45) von Brisbane entlang der Küste in den australischen Norden endete in einem umjubelten Erfolg; seine zweite, mit dem Ziel, den Kontinent von Ost nach West zu durchqueren, im Desaster: Leichhardt und seine acht Genossen verschwanden spurlos im Outback.