Der betrogene Landvermesser

Winfried Köppelle


Editorial

Rätsel

(22.09.2015) Betrügerische Kollegen gaben seine „Karte, die die Welt veränderte“ als Eigenleistung aus und machten damit auch noch viel Geld – er dagegen wanderte hinter Gitter.

Kinder wie er hatten damals eigentlich keine Chance: Aufgewachsen auf dem Land als Sohn eines Hufschmieds, brachte man ihm in der Dorfschule alles Wichtige bei: Lesen, Schreiben und vor allem: Gehorchen. Immerhin beherrschte der Adel ganz Europa, wogegen sich in Übersee gerade erst die aufsässigen Kolonien vom britischen Königreich abgespalten hatten. Doch Rebellion gegen die Oberschicht war hier, im feudalistisch geprägten mittleren Süden Englands, undenkbar. Eine Kindheit wie die des Gesuchten darf man sich grau und ärmlich vorstellen, so ähnlich wie die des Oliver Twist in Charles Dickens‘ berühmtem gleichnamigen Roman.

Doch wie Dickens‘ junger Romanheld hatte auch der hier Gesuchte Glück: Nach dem frühen Tod seines Vaters kam er in die Obhut seines Onkels, und mit 18 in die eines angesehenen Landvermessers, um selbst diesen damals begehrten Beruf zu erlernen. Das viktorianische Zeitalter neigte sich dem Ende zu, und die sich abzeichnende Industrialisierung verlangte nach Rohstoffen. Unser Mann war bald dick im Geschäft und arbeitete für Straßen-, Kanal- und Bergbaufirmen; jahrelang kreuz und quer im Lande unterwegs, um über und unter Tage die vielversprechendsten Kohle-, Kupfer- oder Eisenvorkommen aufzuspüren.

Und jedes Mal, wenn irgendwo im Land Bauarbeiter mühsam die Erdkruste freischaufelten, bemerkte unser Gesuchter etwas Merkwürdiges.

Editorial
Geheimnisvolle Schichten-Ordnung

Die verschiedenen Gesteinsschichten waren offenbar nicht gleichmäßig über England verteilt. Nein, unter unseren Füßen schien sich eine geheime, dreidimensionale (Un-)Ordnung zu befinden – in der einen Gegend lagerten mehr Sedimentgesteine dieser oder jener Art, anderenorts waren eher metamorphe Gesteine vorhanden, und dann wieder tauchten plötzlich Magmatite oder Ähnliches auf. Dank seiner hervorragenden Beobachtungsgabe erkannte der Gesuchte bald immer mehr Zusammenhänge zwischen den Gesteinsformationen, ordnete und benannte sie, und nutzte die neuen Erkenntnisse zum zielsicheren Auffinden mineralischer Lagerstätten.

Doch während Kanalbauten in Südengland bemerkte unser Landvermesser noch etwas – ein Phänomen, das insbesondere für Paläontologen und Evolutionsforscher späterer Jahre enorme Bedeutung erlangte: Manche Fossilien sind für bestimmte Gesteinsschichten charakteristisch, und die Abfolge dieser Schichten mitsamt der darin enthaltenen „Leit“-Fossilien ist gleichsam eine versteinerte geologische Uhr. Damit ist der Gesuchte neben dem Dänen Nicolaus Steno und dem Schotten Charles Lyell einer der Wegbereiter der Stratigrafie, der Kunst der relativen archäologischen Altersbestimmung von Ablagerungen.

Schon zu Lebzeiten berühmt machte unseren Mann etwas anderes: seine legendäre Karte, die er 1815 in London präsentierte und auf der er den geologischen Untergrund fast der ganzen britischen Hauptinsel darstellte – handgefertigt in fünfzehn Jahren, auf einer Fläche von 2,6 mal 1,8 Metern und in kunstvoll kolorierter Darstellung. Doch sein Meisterwerk sollte ihm nur Ärger bringen: Die eingebildeten Lords der Geologischen Gesellschaft weigerten sich zu akzeptieren, dass ein Emporkömmling so etwas zustande gebracht haben könnte. Sie redeten seine Leistung schlecht, kopierten heimlich die Karte und verkauften sie weiter. Der Gesuchte hingegen, um sein Hauptwerk betrogen, geriet in Armut, musste seine Fossiliensammlung verkaufen und landete schließlich sogar kurzzeitig im Schuldengefängnis. Erst wenige Jahre vor seinem Tod rehabilitierten ihn die Kollegen und priesen ihn dann doch noch als „Vater der englischen Geologie“. Wie heißt er?




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Der gesuchte, betrogene Landvermesser ist der englische Geologe William („Strata“) Smith (1769-1839). Der später als „Schichten-Smith“ zu Berühmtheit gelangte Sohn eines Schmieds besaß keinerlei akademische Bildung und gilt doch als „Vater der britischen Geologie“: 1815 veröffentlichte er die erste, bald legendäre geologische Karte eines ganzen Landes: die von England, Wales und Süd-Schottland. Jahrezehntelang war Smith dafür als Landvermesser, berufsbedingt und auch privat, viele zehntausend Kilometer durchs Land gereist und hatte dabei entdeckt, dass bestimmte Fossilien für bestimmte Gesteinsschichten typisch sind. Damit war er, trotz allen Gegenwindes, der ihm aus akademisch-adeligen Kreisen entgegenblies, einer der Wegbereiter der Stratigrafie, der Kunst der relativen archäologischen Altersbestimmung von Ablagerungen.