Der Millivolt-Universalist

Ralf Neumann


Editorial

Rätsel

(26.04.2018) Esoteriker bemühen seinen Namen. Dabei machte er grundsolide Forschung. Nur am Ende seines Lebens übertrieb er deren Bedeutung.

Die sogenannte Energetische Psychologie beruft sich nicht nur, aber auch auf ihn. Ebenso fällt sein Name häufiger, wenn es um die Grundlagen von Rupert Sheldrakes Theorie der Morphogenetischen Felder geht. Und sogar unter dem Stichwort „Spirituelles Gärtnern“ werden Erkenntnisse unseres Gesuchten bemüht, wenn dessen Anhänger ihrem Treiben mal wieder ein wissenschaftliches Fundament geben wollen.

Suchen wir etwa einen auf esoterischen Pfaden wandelnden Pseudowissenschaftler?

Keineswegs. Immerhin durchlief unser Gesuchter von 1915 bis 1958 sämtliche akademischen Karrierestationen an einer absoluten Elite-Universität der USA, wo er gar 1929 für knapp dreißig Jahre den Lehrstuhl für Neuroanatomie besetzte.

Sicher, auch das muss nicht unbedingt vor Irrwegen schützen. Machen wir uns daher lieber ein Bild von unserem Gesuchten, indem wir uns das Schlüsselexperiment seines Forscherlebens anschauen...

Editorial

Ermöglicht wurde dieses durch die Entwicklung einer speziellen Voltmeter-Vorrichtung, mit dem es dem Sohn eines Ökonomieprofessors erstmals gelang, Spannungen in der Größenordnung von 10 Mikrovolt zu messen. Der zweite Weltkrieg stand unmittelbar vor der Tür, als der damals schon fünfzigjährige Schnauzbartträger damit seine erste Messung an einer unbefruchteten Salamander-Eizelle durchführte. Nachdem er zudem alle erdenklichen Kontrollen durchgemessen hatte, stand fest: Das Salamander-Ei war umgeben von einem elektrischen Feld, welches es selbst verursachte.

Allerdings war es nicht homogen. Vielmehr gab es an einer bestimmten Stelle des Eizellen-Äquators einen Punkt höchster Spannung, während der genau gegenüber liegende Punkt die geringste Spannung aufwies. Unser Gesuchter, der in dieser Zeit übrigens auch mit überaus passabler Landschaftsmalerei aufgefallen war, nahm daraufhin hundert weitere Salamander-Eizellen, bestimmte für jede einzelne diese beiden Extrempunkte und markierte sie farblich. Daraufhin befruchtete er sie und stellte ohne Ausnahme fest, dass der Pol mit der höchsten Spannung mit dem späteren Ort des Salamanderkopfes übereinstimmte, während umgekehrt der Eipol mit der niedrigsten Spannung sich zum Salamanderschwanz entwickelte. Das gleiche Ergebnis erhielt er anschließend noch mit Froscheiern und Hühnerembryonen – sodass er schließlich die Hypothese aufstellte, dass der Ort der maximalen Spannung auf der Eioberfläche die Ausrichtung des Nervensystems entlang der Kopf-Schwanz-Achse im erwachsenen Tier vorgibt. Und dies bereits vor der Befruchtung.

Soweit alles grundsolide Wissenschaft. Und auch in den folgenden 25 Jahren lieferten seine immer umfassenderen Studien zu den bioelektrischen Feldern der Organismen durchweg robuste Ergebnisse. So zeigte unser Gesuchter etwa, dass die Spannungswerte über den Brustbereich von Mäusen in die Höhe schossen, wenn sich dort Tumore entwickelten – und zwar zehn bis zwanzig Tage, bevor diese selbst nachweisbar waren. Ebenso lieferte er auf diese Weise Daten zur Bioelektrodynamik von Menstruation und Eisprung, die letztlich sogar zur Entwicklung von Fruchtbarkeitstests führten. Weiterhin zeichnete er von 1943 bis 1966 stündlich (!) die Werte der bioelektrischen Felder einer Ulme und eines Ahorns auf – womit er nicht nur bewies, dass Bäume bioelektrische Felder besitzen, sondern auch zeigte, dass diese sich im Rhythmus der Jahreszeiten, der Mondzyklen und der Tageszeiten verändern.

Damit dürfte inzwischen auch klar geworden sein, weshalb unser Gesuchter allzu gerne von der Esoterik vereinnahmt wird – gerade wenn es um Energiefelder, Auren oder gar um „Spirituelles Gärtnern“ geht.

Ein wenig war er jedoch leider auch selbst mit schuld daran. Denn im hohen Alter übertrieb er die vermeintliche Bedeutung „seiner“ bioelektrischen Felder doch etwas maßlos. Er stilisierte sie zu „Feldern des Lebens“ hoch, die quasi als grundlegende Schablonen die Entwicklung allen Lebens auf der Erde vorgeben – und deren Zustand Auskunft über die jeweilige Verfassung des Organismus gibt. Als er nachfolgend noch postulierte, dass diese „Felder des Lebens“ gar die Verbindung jedes lebenden Organismus zum gesamten Universum darstellten, hatte er seiner an sich seriösen und unzweifelhaften Forschung endgültig einen Bärendienst erwiesen.

Die Veröffentlichung des entsprechenden Buches sollte unser Gesuchter jedoch selbst nicht mehr erleben. Als es herauskam, war er gerade im Alter von fast 84 Jahren gestorben. Wer war er?




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Der „Millivolt-Universalist“ war Harold Saxton Burr, der von 1929 bis 1958 Professor für Anatomie an der Yale University School of Medicine war. Seine Arbeiten zu bioelektrischen Feldern von Zellen und Organismen waren durchaus seriös, werden heute aber vornehmlich in der Esoterik erwähnt.