Der blumenpflückende Leibarzt

Ralf Neumann


Editorial

Rätsel

(30.10.2018) Manchmal kommen Entdeckungen noch sehr viel später zu ganz neuen Ehren. Bei unserem Gesuchten dauerte dies rund vierhundert Jahre.

Gerade hatten sich Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, und der französische König Franz I. zum vierten Mal in den Italienischen Krieg gestürzt, als in der thüringischen Hauptstadt die dritte Ehefrau eines Pfarrers, der sich einige Verdienste um die noch ziemlich frische Reformation erworben hatte, deren ersten Sohn zur Welt brachte. Bis zum Tod des Vaters neun Jahre später sollten noch sieben Geschwister folgen.

Einige Jahre danach wurde der Erstgeborene an eine Klosterschule im Norden von Thüringen geschickt, wo er deren Leiter schnell als „zweiten Vater“ zu schätzen lernte. Auch durch diesen motiviert, entdeckte er dort seine Leidenschaft für das Sammeln, Untersuchen und Katalogisieren der Pflanzen in seiner Umgebung – und brachte es hierin schon in jungen Jahren zu beachtlichen Leistungen.

Dennoch war dem „Blumenpflücker“ zum Ende seiner Schulzeit klar, dass er damit niemals seinen Lebensunterhalt verdienen könnte. Also schrieb er sich an einer erst kurz zuvor gegründeten Universität in Medizin ein.

Editorial

Die Pflanzenkunde selbst war damals nahezu ausschließlich auf Gift- und Heilpflanzen sowie deren medizinische Wirkungen fokussiert, so dass auch an dieser Uni die Botanik in der Medizin angesiedelt war. Und so hörte unser Gesuchter dort die botanischen Vorlesungen eines Medizin-Professors, der ihn hinsichtlich seiner eigenen pflanzenkundlichen Aktivitäten ebenfalls stark prägen sollte.

Sein Medizinstudium schloss er schließlich ohne akademischen Grad ab. Das war damals durchaus üblich und verhinderte in seinem Fall auch nicht, dass er in seinem „Beruf“ eine ordentliche Karriere machte. Im Alter von 30 Jahren war er bereits Leibarzt einer Grafenfamilie, die unweit des höchsten Bergs Norddeutschlands residierte.

Es war diese Grafschaft, die dem Jungmediziner nicht nur die Gelegenheit zur Berufsausübung bot, sondern ihm gleichsam ermöglichte, ausgiebig seinem Hobby nachzugehen. Folglich konnte man ihn in den folgenden Jahren regelmäßig in den dortigen Wäldern und Wiesen auf „Kräuterfahrt“ antreffen.

Die Hauptarbeit jedoch fand stets anschließend in den vier Wänden seines Hauses statt: Sichten, Analysieren, Katalogisieren und Dokumentieren. Fünf Jahre dauerte es auf diese Weise, bis er quasi nebenbei das Werk fertiggestellt hatte, für das der hauptberufliche Leibarzt heute noch bekannt ist. Handschriftlich hatte er in dieser Zeit einen Pflanzenkatalog weit über „seine“ Grafschaft hinaus geschaffen, der wegen seiner Vollständigkeit nicht nur als erste sogenannte „Gebietsflora“ Deutschlands gilt, sondern gar weltweit.

Und damit noch nicht genug der Ehre. Ohne dass er es je selbst beabsichtigt hatte, gestehen nicht wenige unserem Floristen durch diese Leistung eine entscheidende Rolle in dem Prozess zu, die Botanik aus dem niederen Rang einer medizinischen Hilfswissenschaft zu befreien, die ausschließlich Heil- und Giftpflanzen studierte – und sie als eigenständige Disziplin zu etablieren.

Das ist sicherlich nicht verkehrt, allerdings hätte die Welt beinahe nie von diesem Werk erfahren. Sechs Jahre nach dessen Fertigstellung hatte sein Verfasser noch keine Anstalten gemacht, es zu veröffentlichen, da wurde er auf der Fahrt zu einem Patienten Opfer eines Kutschunfalls. Knapp drei Wochen später starb er an einer Lungenembolie als Folge des erlittenen offenen Unterschenkelbruchs.

Dass er heute dennoch als Pionier der Pflanzenkunde in Erinnerung ist, verdanken wir vielmehr dem Engagement desjenigen engen Freundes, dem er sein Werk damals gewidmet hatte. Fünf Jahre nach dem Tod des Verfassers ließ dieser das Werk unter lateinischem Titel in Frankfurt am Main drucken.

In seiner Abhandlung beschrieb unser Gesuchter unter anderem erstmals ein unscheinbares kleines Kraut, dessen heutigen Namen Google Scholar alleine für das Jahr 2017 in satten 34.500 Veröffentlichungen listet. Noch 1979, also rund vierhundert Jahre nach Fertigstellung des Florenwerks, war es gerade mal in sieben Artikeln aufgetaucht. Offenbar war das Forscherinteresse an dem Kräutlein in der Zeit dazwischen förmlich explodiert.

Unser Gesuchter selbst hatte dem Pflänzchen damals noch einen ganz anderen lateinischen Namen gegeben. Im 18. Jahrhundert benannte Carl von Linné es im Zuge seiner Systematisierungsarbeiten um und ehrte mit dem neuen Namen gleichsam den Entdecker. Genau dreihundert Jahre nach dessen Geburt erhielt es schließlich den bis heute gültigen Gattungsnamen. Unser Gesuchter blieb im artspezifischen Beiwort weiterhin erhalten.

Wie heißt er?




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Der „blumenpflückende Leibarzt“ war der Thüringer Johann Thal (1542-83), der in seiner 1588 posthum erschienenen Gebietsflora „Sylva Hercynia“ erstmals den heutigen Modellorganismus der molekularen Pflanzenforschung, Arabidopsis thaliana, beschrieb. Damals taufte er das Kräutlein allerdings auf Pilosella siliquosa.