Der Büchleinkatalytiker

Ralf Neumann


Editorial

Rätsel

(27.11.2020) Seine Vorlesung war Zündfunke, die Biologie grundlegend zu verändern. Als es dann passierte, hatte unser Gesuchter dem Feld jedoch schon wieder den Rücken gekehrt.

Es war eines der dunkelsten Jahre der jüngeren Weltgeschichte, als ein gebürtiger Wiener an demselben Ort, an dem Bram Stoker und Oscar Wilde ihre Studienabschlüsse machten, eine Vorlesung hielt, die bald darauf hohe Wellen in der Wissenschaft schlagen sollte. An drei Freitagen nacheinander sprach der berühmte Physiker vor jeweils 400 Zuhörern inklusive des Premierministers allerdings nicht über sein eigenes Fach. Vielmehr stürzte er sich mit dem Titel seines Vortrags völlig unbescheiden in die Kernfrage der Biologie schlechthin.

Die Wirren am Vorabend des Zweiten Weltkriegs hatten ihn an diesen Ort gebracht. Im Ersten Weltkrieg hatte er unmittelbar nach seiner Habilitation im Wiener Physikalischen Institut noch selbst kämpfen müssen; danach landete er über Berufungen nach Jena, Stuttgart und Breslau schließlich auf einem Lehrstuhl, den vor ihm bereits Albert Einstein und Max von Laue innehatten. Drei Jahre später trat er endgültig in deren Fußstapfen, als er während eines Ferienaufenthalts in den Schweizer Alpen die nach ihm benannte Gleichung ersann und damit ein gänzlich neues Feld seiner Disziplin eröffnete. Nochmals zwei Jahre darauf übernahm er als Nachfolger von Max Planck dessen Lehrstuhl an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Mit Hitlers Machtergreifung sah er sich jedoch genötigt, auch dort wieder seine Koffer zu packen – und erfuhr schließlich Aufnahme an einem Edel-College in Oxford. Dort war er gerade angekommen, als er den berühmt-berüchtigten Anruf aus Stockholm erhielt...

Editorial

Drei Jahre später wechselte der Hochgeehrte zurück in sein Heimatland nach Graz, doch bald nach Österreichs Anschluss an das Dritte Reich wurde er dort wieder entlassen. Daraufhin verließ unser Gesuchter endgültig den „Dunstkreis“ des deutschen Nationalsozialismus – und nahm mehr als ein Jahr später an dem Ort, an dem er die erwähnte Vorlesung halten sollte, seine Arbeit an einem frisch gegründeten Institute for Advanced Studies auf.

Aufgrund dieses Hintergrunds waren viele überrascht, als er sich mit dem Titel seiner Vorlesung derart weit über die Grenzen seines Fachs hinauswagte. Folgerichtig bekannte er also zu Beginn seines Vortrags: „Einige von uns [müssen] sich schließlich an die Zusammenschau von Tatsachen und Theorien wagen, auch wenn ihr Wissen teilweise aus zweiter Hand stammt und unvollständig ist – und sie Gefahr laufen, sich lächerlich zu machen. So viel zu meiner Entschuldigung.“

Mit diesen Worten schließt auch die Einleitung des knapp hundert Seiten starken Büchleins, in dem die kurze Vortragsreihe einige Monate später abgedruckt erschien. Die enorme Bedeutung dieses Büchleins sollte sich jedoch paradoxerweise weniger wegen seines Inhalts manifestieren, als vielmehr durch seine phänomenale Wirkung. Viele der Inhalte wurden von den wahren Experten des Fachs umgehend kritisiert – und sollten sich in der Folgezeit auch tatsächlich als fehlerhaft erweisen. Aber nicht alle!

Wichtiger war indes, dass unser Gesuchter mit dem Büchlein schlichtweg die richtigen Fragen zur richtigen Zeit stellte. Insbesondere wurde es von einer ganzen Generation junger Physiker geradezu verschlungen, die der jahzehntelangen kriegsbedingten Militärforschung ihrer Disziplin überdrüssig war. Und so machten diese Unzufriedenen sich hordenweise auf, um daraufhin den Biologen die Entschlüsselung der Mechanismen der Genetik weitgehend aus der Hand zu nehmen – und damit ihrerseits die neue Disziplin der Molekularbiologie zu begründen.

Die geradezu katalytische Bedeutung des Büchleins für diesen Prozess wird unter anderem durch eine kleine Anekdote dokumentiert, die sich etwa neun Jahre nach dessen Erscheinen zutrug. Unser Gesuchter erhielt den Sonderdruck einer Arbeit, die sich schon bald darauf als epochal erweisen sollte. Im Begleitbrief schwärmte ihm einer der beiden Autoren – eben einer dieser jungen Physiker – vor, wie stark dessen Büchlein ihn selbst und seinen Co-Autoren, einen ausgebildeten Vogelkundler, beeinflusst habe. „Es sieht so aus, als ob Ihr Ausdruck vom ‚aperiodischen Kristall‘ sich als ungemein treffend erweisen wird“, schrieb er weiter – und meinte damit, dass die in ihrer Arbeit gezeigte molekulare Struktur direkt bestätigt habe, was jener in Vorlesung und Buch prinzipiell vorausgesagt hatte.

Unser Gesuchter antwortete jedoch nicht.Auch später, als die Code-Steuerung des Zellgeschehens, die er gleichfalls prinzipiell umrissen hatte, ebenfalls bestätigt wurde, blieb er – mittlerweile wieder zurück in Wien – still. Der Grund war, dass seine eigenen Erwartungen an das Thema bereits zuvor enttäuscht worden waren. Er hatte vermutet, dass sich hinter diesen elementarsten Vorgängen aller Zellen völlig neue Prinzipien verbergen, die Physik und Chemie alleine nicht erklären können. Als er sah, dass er damit falsch lag, zog er sich umgehend aus dem Thema wieder zurück...

Wie lauten der Titel des Büchleins sowie der Name des Autors, der ansonsten auch gerne noch mit einem samtpfötigen Haustier in Zusammenhang gebracht wird?




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Der „Büchleinkatalytiker“ ist der österreichische Physiker Erwin Schrödinger, des-sen Betrachtung „Was ist Leben?“ vielen Pionieren der Molekularbiologie als Inspiration diente.