Die Modellmacherin

Ralf Neumann


Editorial

Rätsel

(30.01.2021) Und wieder geht es um eine Frau, ohne deren Pionierleistung es einen späteren Nobelpreis für jemand anderen so wohl nicht gegeben hätte...

Schon lange ist man gewohnt, dass wichtige Entdeckungen in der Genetik aus E. coli, Hefe, Drosophila, Arabidopsis, Maus oder Zebrafisch kommen. Oder eben aus einem anderen sogenannten Modellorganismus. Im Gegensatz dazu machte unsere Gesuchte die entscheidenden Beobachtungen mit den Chromosomen eines ziemlich gewöhnlichen Käfers. Dies sicherlich auch deswegen, weil die meisten der oben genannten Modellorganismen zu dieser Zeit noch gar nicht als solche etabliert waren. (Und im Gegensatz zu den Chromosomenstudien unserer Gesuchten spielte der Käfer auch nachfolgend kaum noch eine Rolle in der Forschung; stattdessen macht er bis heute Karriere als billig zu züchtendes Proteinfutter in Tierhaltung und Terraristik.)

Als unsere Gesuchte vor über hundert Jahren quasi „auf den Käfer kam“, war sie bereits 44 Jahre alt. Was unter anderem auch daran lag, dass sie – wie so viele Frauen in dieser Zeit – ihrem Drang zum Forscherinnen-Dasein nur sehr zäh folgen konnte. Geboren wurde sie knapp zwei Monate, nachdem der amerikanische Bürgerkrieg losgegangen war – pikanterweise genau in dem US-Bundesstaat, der als erster die Sklaverei verbot. Ihre beiden älteren Brüder waren bereits im Kindesalter gestorben, ihre Mutter starb zwei Jahre später nach der Geburt der jüngeren Schwester. Im Alter von vier Jahren zog sie mit dem erneut verheirateten Vater und ihrer Schwester einen US-Bundesstaat weiter nach Osten. Dort meinte es das Schicksal endlich mal etwas günstiger mit ihr: Der Vater hatte mit seinem Handwerksbetrieb schnell Erfolg, sodass er seinen beiden Töchtern eine gute Schulbildung ermöglichen konnte.

Editorial

Im Alter von 20 Jahren arbeitete sie zunächst als Highschool-Lehrerin, begann aber bereits ein Jahr später ein naturwissenschaftliches Rundum-Studium an einer pädagogischen Hochschule, welches sie mit Bravour abschloss. Dennoch arbeitete sie danach zunächst weitere 13 Jahre als Lehrerin und Bibliothekarin. Erst danach hatte sie genug Geld zusammengespart, dass sie diese Tätigkeiten aufgeben und sich an der Stanford University für ein Biologie-Studium mit Schwerpunkt Zytologie einschreiben konnte.

Vier Jahre später hatte sie ihren Master in der Tasche und wechselte für ihre Doktorarbeit an ein kleines Frauen-College im Osten der USA. Eine perfekte Wahl, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht: Schließlich forschten und lehrten dort zu dieser Zeit unter anderem auch zwei Männer, die sich in der Folgezeit zu den ganz Großen der Zellbiologie entwickeln sollten.

Hatte sie in ihrer Dissertation, die sie schließlich im Alter von 42 Jahren abschloss, vor allem noch Wimperntierchen unter dem Mikroskop beobachtet, ging sie in den Folgejahren dazu über, insbesondere Chromosomen zu präparieren. Dies war sicherlich auch motiviert durch den vorangegangenen ersten von zwei Aufenthalten bei einem Würzburger Zoologen, der kurze Zeit später die große Theorie zur Funktion der Chromosomen begründen sollte.

Bald darauf hatte unsere Gesuchte immer wieder die besagten Käfer-Chromosomen auf dem Objektträger – und machte schließlich eine folgenschwere Beobachtung: Weibliche Käfer hatten immer 20 große Chromosomen, männliche Tiere dagegen immer 19 große und ein kleines. Auch wenn sie selbst es seinerzeit vorsichtiger ausdrückte: Sie hatte die Geschlechtschromosomen identifiziert. Und mehr noch: Als Erste hatte sie damit nachgewiesen, dass sich körperliche Unterschiede – hier: das Geschlecht – über Chromosomen weitervererben. Zu einer Zeit, als Gene noch nicht bekannt waren.

Da die meisten Pioniere der Chromosomen-Zytologie in dieser Frage damals der Hypothese hinterherjagten, dass weibliche Individuen ein Chromosom mehr hätten als männliche, folgte zunächst, was in solchen Fällen leider oft passiert: Die Mehrheit der Community glaubte ihr nicht. Der eine der beiden erwähnten College-Kollegen, der kurze Zeit später an eine Edeluniversität wechseln und dort ein legendäres „Zimmer“ gründen sollte, schrieb denn auch wenige Jahre später dazu in seinem Nachruf auf unsere Gesuchte in Science:

„Es ist nicht zu viel gesagt, dass viele Zytologen mehrere Jahre lang eine skeptische oder sogar antagonistische Haltung gegenüber ihrer neuen Entdeckung einnahmen. Zweifellos wird man dies der wissenschaftlichen Vorsicht zuschreiben, aber vielleicht erklärt Konservatismus besser die Langsamkeit, mit der diese Entdeckung anerkannt wurde.“

21 Jahre nach diesen Worten erhielt deren Autor den Nobelpreis – für Forschungsleistungen, die nicht unerheblich auf denjenigen der von ihm Gewürdigten aufbauten. Überdies verdankte er sie einem weiteren kleinen Tierchen, das sie zuvor in dessen Labor der Forschung erstmals überhaupt zugeführt hatte – und das danach tatsächlich zu einem der ganz großen Modellorganismen werden sollte.

Sie selbst war zu diesem Zeitpunkt jedoch schon lange an Brustkrebs verstorben. Wie heißt sie?




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Die „Modellmacherin“ ist Nettie Stevens, die in Mehlkäfer-Präparaten erstmals Geschlechtschromosomen identifizierte und der genetischen Forschung Drosophila als Modellorganismus bescherte.