Der Tarndenker

Ralf Neumann


Editorial

Rätsel

(26.02.2021) Immer wieder wurden biologische Phänomene zum Unterbauen von philosophischen Theorien herangezogen. So wie hier etwa die Mimikry.

Heutzutage gibt es kaum mehr sogenannte Gelehrtenstreite. Früher hingegen gerieten gerade die klügsten Köpfe ihrer Zeit reihenweise über bestimmte Themen „in Streit“ . Wie etwa Mitte des 19. Jahrhunderts, als Jöns Jakob Berzelius und Justus von Liebig postulierten, dass die alkoholische Gärung auf der katalysierenden Wirkung bestimmter Stoffe beruht – und andere Berühmtheiten wie etwa Theodor Schwann und Louis Pasteur dagegenhielten, dass der Gärprozess nur mithilfe lebender Zellen stattfinden könne. Es sollte schließlich bis 1897 dauern, dass Eduard Buchner diese Kontroverse mit seinen Experimenten zugunsten Letzterer auflöste.

Deutlich weniger bekannt ist hingegen der Gelehrtenstreit, den der Wiener Entomologe Franz Heikertinger 1925 mit einer Publikation im Biologischen Zentralblatt auslöste. Darin schaute er sich das bereits 1862 erstmals vom englischen Naturforscher Henry Walter Bates beschriebene Konzept der tierischen Mimikry genauer an – um schließlich einen bestimmten Teil der bislang darunter erfassten Beispiele unter dem neuen Begriff der Mimese abzuspalten. Während die klassische Mimikry grundsätzlich die Tarnung und Täuschung von Tieren durch deren optische Erscheinungsform beschreibt, machte Heikertinger folgenden Unterschied: Bei der Mimikry sendet das Tier explizit deutliche Signale aus, etwa indem ein wehrloses Insekt eine ähnliche Warnfärbung wie eine ungenießbare oder giftige Art vortäuscht und daher ebenfalls von potenziellen Fressfeinden verschont wird. Umgekehrt wird bei der Mimese gerade die Aussendung solch klarer Signale bewusst vermieden, etwa wenn ein Insekt durch seine Zeichnung mit seiner Umgebung verschmilzt und sich auf diese Weise der Wahrnehmung des Fressfeindes entzieht. Nach Heikertinger sind demnach Tarnen und Täuschen zwei prinzipiell verschiedene Konzepte. Allerdings geriet er darüber vor allem mit dem Jesuiten und Ameisenforscher Erich Wasmann in einen heftigen Disput, an dessen Ende der Begriff Mimese auf lange Zeit nicht verwendet wurde. Dennoch konnte er sich bis heute zumindest im deutschsprachigen Raum wieder stärker etablieren.

Editorial

Um jetzt zu unserem Rätsel zu kommen, blenden wir indes nochmals weiter zurück – und zwar rund vierzig Jahre vor den Heikertinger-Wasmann-Streit. Da rekrutierte nämlich ein großer deutscher Denker das Phänomen der Mimikry, um damit menschliche Gesellschafts- und Staatsformen kritisch unter die Lupe zu nehmen. Heute allerdings ist klar, dass er gerade bei diesen Betrachtungen mit „Mimikry“ eher das meinte, was Heikertinger später als „Mimese“ herausarbeiten sollte.

Hatte kurz zuvor noch Darwin die Mimikry als „Geschenk Gottes“ für die Entwicklung der Evolutionstheorie gepriesen, ging unser Denker damit umgehend weit über das biologische Phänomen hinaus. Er proklamierte, dass im Rahmen der Evolution von Mimikry gerade wir Menschen es zur wahren Meisterschaft in der Kunst der Tarnung und des Versteckspielens gebracht hätten. Und mehr noch: Er sah in der Mimikry die Schlüsselfähigkeit, welche die Grundlage bildet für nicht weniger als das demokratische Zusammenleben.

Seine Argumentation ging dabei grob verkürzt folgendermaßen: Für die Entstehung einer demokratischen Gesellschaftsordnung müssen die Individuen besondere psychische Fähigkeiten mitbringen. Dies wiederum betreffe vor allem das, was man „Einfühlungsvermögen“ oder modern als „Empathie“ bezeichnet. Denn nur damit erhielten die schwächeren Individuen die Möglichkeit, sich im Kampf um ihre Existenz in der Gemeinschaft mit den stärkeren auf eine Stufe zu stellen – und zwar durch Verstellung. Womit unser Gesuchter direkt bei der Mimikry – oder der Mimese – als Wurzel des Ganzen angelangt war. Denn schließlich, so schrieb er in einem seiner zahlreichen Werke, ließe sich gerade mit ihr die Evolution psychischer Fähigkeiten bestens demonstrieren, weil das Zusammenspiel von Selbst- und Fremdbeobachtung sowie der daraus folgenden Tarn-Handlung von lebenswichtiger Bedeutung sei. Er ging also davon aus, dass die Mimikry die erste evolutionäre Form der Verstellung darstellt – und erhöhte ihr Auftreten gleich weiter zum Indiz für die erstmalige Entstehung von Intelligenz. Denn wodurch manifestiert sich „Geist“ (= Intelligenz) denn sonst als durch die Fähigkeit, Informationen über sich selbst und seine Umwelt zu verarbeiten – und damit zu einer kreativen Handlung zu kommen, um ein Problem zu lösen?

Auch wenn unser Denker sich also für seine „Evolution der Demokratie“ durchaus bei Darwin bediente, stand er dem Darwinismus generell jedoch eher ablehnend gegenüber und sympathisierte stattdessen vielmehr mit Lamarck. So urteilte er auch im Mimikry-Zusammenhang in gewohnt markigen Worten: „Darwin hat den ‚Geist‘ vergessen.“ Was allerdings bei genauem Hinschauen nicht stimmte. Aber selbst wenn Darwin und der Denker gleich alt gewesen wären, hätten sie darüber wohl keinen Gelehrtenstreit angefangen.

Wie heißt er?




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Der „Tarndenker“ ist Friedrich Nietzsche, der in der Entwicklung der biologischen Mimikry eine Grundvoraussetzung für das Entstehen einer demokratischen Gesellschaftsordnung sah.