Der Gasbläschen-Versteher

Ralf Neumann


Editorial

Rätsel

(13.09.2021) Nicht viele Nobelpreisträger dürften an der Kriegsfront für ihr Vaterland gestorben sein. Unser Gesuchter gehörte dazu.

Wer auch immer bei Focșani am 11. August 1917 die Granate aus den rumänisch-russischen Reihen in Richtung einer bayerischen Munitionskolonne abfeuerte, wird wohl selbst nie erfahren haben, dass er damit das Leben eines Majors auslöschte, der zugleich Nobelpreisträger war. Aus dem Feldlazarett schrieb dieser noch an seine Frau:

Editorial

„Vorgestern hat‘s mich etwas erwischt! Wir standen sechs Stunden mit Munition an einer etwas ausgesetzten Stelle. Schließlich kam eine Granate, schlug mir den rechten Oberschenkel ab und verursachte noch eine Fleischwunde. [...] Es ist sehr glücklich gegangen! Sonst sind von der Kolonne nur noch vier Pferde tot. Im Ganzen kann ich also sehr, sehr froh sein. Wenn alles gut geht, wozu einige Aussicht besteht, werde ich vielleicht schon in einigen Tagen in die Heimat abtransportiert.“

Diese fatale Selbsteinschätzung sollte sich als falsch erweisen. Bereits in den Morgenstunden des nächsten Tages verstarb er. In einem Brief notierte der Feldarzt am Ende: „Es war wohl eine plötzliche Herzschwäche, die Herrn Major im Schlafe sanft erlöst hatte.“

Viele waren befremdet, als sich der „Herr Professor“ trotz fortgeschrittenen Alters noch zweimal – 1914 und 1917 – freiwillig für den Frontdienst meldete. Schließlich hatte er Anfang 1908, nach dreißig Dienstjahren in der Reserve, um Abschied gebeten – dabei allerdings ausdrücklich um die Erlaubnis zum weiteren Tragen der Uniform ersucht. Man muss demnach schließen, dass er seinen Kriegseinsatz als höchste Pflicht für das Vaterland ansah. Dass er diesem auf wissenschaftlichem Gebiet schon übermäßig Ruhm und Ehre gebracht hatte, zählte offenbar weniger für ihn.

Dabei entsprang die bedeutendste Erkenntnis des studierten Chemikers nicht einmal einem eigenen Projekt, sondern vielmehr einem seines älteren Bruders Hans. Dieser leitete seit ein paar Jahren das Institut für Hygiene an der Universität München und arbeitete an einer Methode, Zellsäfte aus Mikroorganismen zu gewinnen, um darin potenzielle Entzündungssubstanzen aufzuspüren.

Der Jüngere hatte sich zuvor schon an diesem methodischen Problem versucht – dies allerdings in Zusammenhang mit einem grundsätzlichen Stoffwechselprozess, den man vor allem von einem Einzeller kannte, der wiederum eine große Rolle in der Getränke- und Lebensmittelindustrie spielte. Und genau dort kam unser Gesuchter erstmals damit in praktischen Kontakt, als er sein Chemiestudium an der Technischen Hochschule München unterbrach, um in einer Konservenfabrik zu arbeiten. Deren Umzug von München nach Mombach bei Mainz machte er zwar nur noch kurz mit, der erwähnte Stoffwechselprozess ließ ihn von da an jedoch nicht mehr los.

Zum Jahreswechsel 1883/84 nahm unser Gesuchter sein Studium in München wieder auf. Gut drei Jahre später besorgte ihm sein Doktorvater, der Justus von Liebig auf dessen Münchner Lehrstuhl gefolgt war, ein Stipendium und richtete ihm eigens ein kleines Labor für sein Stoffwechsel-Projekt inklusive Entwicklung der „Zellsaft-Methode“ ein. Allerdings verrannte er sich damit ein wenig – sowohl in wissenschaftlicher als auch in patentrechtlicher Hinsicht –, sodass er schließlich über ein Thema aus der organischen Chemie promovieren musste. Auch seine Habilitation erwarb er mit einer Arbeit über die Synthese und Analyse gewisser ringförmiger Moleküle. Danach wirkte er noch drei Jahre als Privatdozent an der Universität Kiel, bevor er zum außerplanmäßigen Professor für analytische und pharmakologische Chemie an die Universität Tübingen berufen wurde. Kurz darauf bat ihn sein älterer Bruder um Hilfe bei dessen Zellsaft-Projekt.

Erst damit konnte unser Gesuchter wieder in sein Herzensthema einsteigen – dies allerdings sofort mit einem Paukenschlag. Aufgrund der deutlich besseren Ausstattung am Münchner Hygiene-Institut war der damalige Assistent des Bruders schon recht weit mit dem Zellsaft-Projekt, als letzte Hürde erwies sich nur noch dessen Stabilisierung und Konservierung. Kurz nachdem der jüngere Bruder aus Tübingen im Labor eingetroffen war, wurde er Zeuge, wie man dort ausgerechnet ein Zellsaft-Präparat aus seinem früheren Lieblings-Einzeller durch Zugabe von Zucker stabilisieren wollte. Als der Saft nach einer halben Stunde anfing, unentwegt Gasbläschen zu bilden, war ihm sofort die bahnbrechende Erkenntnis klar, die sich daraus ergab ...

Zuvor hatten sich keine Geringeren als Justus von Liebig und Louis Pasteur jahrzehntelang einen heftigen Grundsatzstreit über den zugrundeliegenden Mechanismus dieses Stoffwechselprozesses geliefert. Auf die Frage, wem seine Erkenntnisse nun eher recht geben würden, antwortete unser Gesuchter diplomatisch: Beiden! Doch die Lager blieben lange verhärtet, sodass selbst nach seinem Nobelpreis immer noch nicht jeder von seinen Erkenntnissen überzeugt war. Die große Mehrheit jedoch war sich da bereits einig, dass er damit überhaupt erst die Grundlage für die Biochemie als eigenständige Disziplin gelegt hatte.

Wie heißt also der Ur-Biochemiker?





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Der „Gasbläschenversteher“ ist Eduard Buchner, der mit der Entdeckung der zellfreien Gärung den Startschuss für die Biochemie als eigenständige Forschungsdisziplin gab.