Editorial

Das letzte Opfer

Winfried Köppelle


Rätsel

(12.08.2013) Eine junge Angestellte stirbt an hochriskanten Erregern, der Institutsleiter begeht auf unappetitliche Weise Selbstmord, ein aufgeregter Angehöriger erliegt einer Herzattacke: Dramatische Geschehnisse Ende der 1970er Jahre.

Die hier geschilderten Vorgänge sind wirklich passiert, so makaber und unfassbar sie auch scheinen mögen. Wir schreiben das Dreipäpstejahr, in dem der frühere Regierungschef Italiens ermordet wird und ein Computerexperte die ersten Spam-Mails versendet. Auf der britischen Insel wurde soeben die erste erfolgreiche In-vitro-Zeugung der Menschheitsgeschichte mit einem 2600-Gramm-Säugling gekrönt; wenig später nährt ein anderer Brite den Nationalstolz, als bekannt wird, dass er für seine originelle Theorie zur membrangebundenen Energieerzeugung den Nobelpreis erhält.

Das Retortenbaby prangt noch auf den Titelseiten, als unversehens dramatische Wochen beginnen, die ganz Großbritannien in Atem halten werden. Ort des Geschehens ist die medizinische Fakultät eines Universitätsklinikums. Dort sterben nach einem Zwischenfall im Hochsicherheitstrakt drei Menschen. Was ist passiert?

Auslöser für die Todesfälle ist eine falsch konzipierte Lüftungsanlage. Sie verbindet das anatomische Institut mit dem einen Stock tiefer gelegenen Hochrisikolabor. Dort züchtet man einen der tödlichsten Erreger der Menschheitsgeschichte – ein ovales, lebloses Gebilde, das jedoch fürchterliche Kräfte freizusetzen vermag. Die von ihm ausgelösten Massensterben reichen von der Antike bis ins zwanzigste Jahrhundert; die Überlebenden sind durch Vernarbungen entstellt, blind, gelähmt, gehörlos oder hirngeschädigt. Ein Heilmittel gibt es nicht.

Tödliche Fracht im Lüftungsschacht

Dass sich der Unhold auch über windverfrachtete Stäube verbreitet, wird sich schon bald als fatal erweisen. Ebenso, dass er eigentlich als so gut wie ausgerottet gilt. Seit mehr als 36 Monaten hat man ihn nicht mehr gesichtet; längst bereitet die Weltgesundheitsorganisation ihre Bulletins vor, welche von seiner Global Eradication künden werden. Dass er ausgerechnet in einem hochentwickelten Industrieland noch einmal seine grässliche Fratze zeigen und sein letztes Opfer fordern wird – nein, damit haben die Ärzte nicht gerechnet!

Eine junge Wissenschaftsfotografin, sitzt an diesem Morgen mal wieder oben in ihrem Kämmerlein, als der unsichtbare Unheilsbringer leise den Lüftungsschacht hochwandert. Das akademische Finanzjahr neigt sich dem Ende zu und die Gesuchte möchte ihr Budget ausschöpfen. Länger als sonst arbeitet sie in diesen Tagen und ordert kistenweise Fotomaterialien, während winzige Partikel unbemerkt in ihren Körper eindringen. Zwei Wochen später fühlt sie sich unwohl, hat Muskel- und Kopfschmerzen. Eine Grippe? Aber was sind das für seltsame Punkte auf ihrer Haut? Viel zu spät stellen die Ärzte die niederschmetternde Diagnose: Sie ist infiziert mit der gefährlichsten Variante des erwähnten Killerkeims. Ihre Impfung vermag sie nicht zu schützen. Weitere zwei Wochen kämpft die 40-jährige noch auf der Isolierstation gegen die Krankheit, ehe ihre Lebensfunktionen versagen.

Zwei andere Menschen sind da bereits tot: Der verantwortliche Abteilungsleiter, der sicherheitsgefährdende Umbauten im Labor veranlasste, mangelhaft ausgebildetes Personal beschäftigte und die Behörden über den wahren Umfang der verrichteten Tätigkeiten anlog, schneidet sich, gepeinigt von Gewissensbissen und öffentlichen Vorwürfen, im Garten seines Hauses die Kehle durch und stirbt noch vor der Gesuchten im Krankenhaus. Er habe das Vertrauen enttäuscht, das seine Kollegen in ihn gesetzt hätten, steht in seinem Abschiedsbrief. Und der 77-jährige Vater der Gesuchten erliegt, als er seine sterbende Tochter im Krankenhaus besucht, vor Aufregung einem Herzinfarkt. Wie aber heisst das bislang letzte Opfer der schrecklichen Seuche?




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Das gesuchte, letzte Opfer ist die britische Wissenschaftsfotografin Janet Parker (1938- 1978). Parker ist der letzte Mensch, der an einer Pockeninfektion starb. Sie infizierte sich während ihrer Arbeit am Anatomischen Institut der Uniklinik Birmingham mit Variola-Viren, die sich über eine fehlerhaft konzipierte Lüftungsanlage von dem benachbarten mikrobiologischen Forschungslabor aus verbreitet hatten. Am 11. August 1978 begann (die gegen Pocken geimpfte) Parker sich krank zu fühlen, wurde jedoch erst 13 Tage später ins Krankenhaus eingeliefert. Dort diagnostizierte man eine Infektion mit Variola major. Weitere 18 Tage später starb sie. Zuvor waren zwei andere beteiligte Personen gestorben: Der Leiter der mikrobiologischen Abteilung, Henry Bedson, beging Selbstmord, und Parkers Vater erlag während eines Krankenhausbesuchs einem Herzinfarkt.