Editorial

Der nächtliche Besucher

Winfried Köppelle


Rätsel

(06.09.2016) Für sein Geständnis, sich einst als Postdoc heimlich einen Klon angeeignet zu haben, wurde er mit einer Riesensumme Geld belohnt.

Der neue Doktorand trat auf wie ein texanischer Garagenrocker: Schwere Silberringe an den Fingern, den Südstaatler-Cowboyhut verwegen über die blonde Hippiemähne gestülpt, an den Füßen verzierte Lederstiefel. Stevie Ray Vaughan Junior schockiert biedere Provinzschwaben im Tübinger Max-Planck-Institut für Virusforschung. Die strebsame Doktorandin Christiane rannte, so die Überlieferung, schnurstracks zu ihrem Mentor und Arbeitsgruppenleiter Heinz Schaller: „Der Typ soll bei uns anfangen? Das ist doch nicht Ihr Ernst?!“

Doch Schaller, dessen Labor zu den Top-Adressen der gerade sich entwickelnden Mole­kularbiologie gehörte, war es bitter ernst; er nahm den Typen, dessen Intelligenz ihn beeindruckte – und sollte es nicht bereuen, denn sein exaltierter neuer Schüler mit dem geckenhaften Oberlippenbärtchen bewies alsbald, dass er nicht nur einer E-Gitarre spektakuläre Klänge zu entlocken vermochte. Er war provokant, extravagant und ein „bunter Vogel“, besaß aber auch ein begnadetes Pipettierhändchen. Nur Christiane war nicht entzückt, zumal der Kerl dauernd ihre sorgsam bereiteten Puffer und Stammlösungen aufbrauchte, ohne sie zu fragen. Die komplett verschiedenen Lebens­stile zweier aufstrebender Nachwuchsgenies kollidierten auf engstem Raum.

Bald trennten sich ihre Wege: Christiane wechselte zur Genetik und Entwicklungsbiologie und legte im Biozentrum Basel bei Walter Gehring den Grundstock für ihren späteren Nobelpreis. Unseren zwei Jahre jüngeren Gesuchten hingegen zog es über den Atlantik, hin zu den Pionieren der rekombinanten DNA-Technologie: Ab 1975 forschte er als DFG-Stipendiat an der University of California in San Francisco (UCSF).

Erfolg und Geringschätzung in Übersee

Auch in den USA galten er und sein Postdoc-Kumpel Axel bald als exzellente, unheimlich geschickte Experimentatoren: „They were good. And they knew it. They were very pushy, very aggressive, very ambitious, and very smart”, erinnert sich ein Zeitgenosse an die beiden deutschen Postdocs aus Howard Goodmans legendärer UCSF-Gruppe. Was die beiden auch anpackten, trug Früchte: „It all worked. It was absolutely amazing.” Axel stürzte sich aufs Insulin, sein Laborkollege aufs humane Wachstumshormon. Was sie beabsichtigten, hielten weit erfahrenere Kollegen für unmöglich: Sie wollten ein menschliches Gen klonieren – mit der Option, in Bakterien eine Massenproduktion des entsprechenden Proteins aufzuziehen. „Both projects were state-of-the-art, on the very edge of possibility“, so ein Zeitzeuge. Und obwohl die Konkurrenz immens war, publizierten beide damals in Science, Cell und Nature wahre Meilensteine der Molekularbiologie.

Doch in der Arbeitsgruppe knirschte es; die „viel zu komplizierten“ Projekte der beiden Deutschen würden scheitern, klagte Goodman fortwährend. „He wanted to kick him out of the lab“, erinnert sich ein Zeitzeuge über die unguten Absichten des Teamleiters. Und als man dem Chef einen Forschungspreis verlieh für Resultate, die doch seine Postdocs erarbeitet hatten, war die Luft endgültig vergiftet. Im Sommer 1978 gelang es dem Gesuchten, trotz aller Widrigkeiten erstmals das Ratten-Wachstumshormon in Bakterien zu exprimieren: Der Weg zu rekombinant humanem hGH war frei! Flugs meldete die UCSF eine Reihe von Patenten an – mit Goodman und anderen Gruppenleitern als Erfinder. Unsere Postdocs hingegen wurden gar nicht erwähnt.

Damit war das Fass übergelaufen. Unser Mann quittierte den Dienst und wechselte zum kommerziellen Konkurrenten Genentech. Seine Gensequenzen ließ er mitgehen – am Silvestertag 1978, eine Stunde vor Mitternacht, wie er später vor Gericht zugab. 22 Jahre danach kassierte er, inzwischen angesehener MPI-Direktor, dafür eine nachträgliche Entschädigung von 32 Millionen Mark. Wie heißt er?




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Der gesuchte, nächtliche Besucher ist der Neurobiologe und Biochemiker Peter Seeburg (1944-2016). Seeburg war Anfang der 1970er Jahre als Doktorand Laborkollege von Christiane Nüsslein-Volhard in Heinz Schallers Arbeitsgruppe am damaligen Tübinger Max-Planck-Institut für Virusforschung. 1975 ging er als Postdok nach Kalifornien an die UCSF und wechselte 1978 zur damals jungen Biotechfirma Genentech, wo er maßgeblich an der ersten gentechnischen Herstellung eines menschlichen Proteins in einem Bakterium (Somatotropin) beteiligt war. 1987 ging er nach Deutschland zurück: zunächst ans ZMBH der Universität Heidelberg, und 1996 schließlich als Direktor ans benachbarte MPI für medizinische Forschung; sein wissenschaftlicher Schwerpunkt war dort u.a. die Erforschung der Funktion synaptischer Botenstoff-Rezeptoren für Lernen und Gedächtnis.