Editorial

Der furchtlose Tiefsee-Pionier

Winfried Köppelle


Rätsel

(02.06.2017) In guter Familientradition betätigte er sich als Erforscher extremer Orte – und widmete sein langes Leben dem marinen Umweltschutz.

Leben vermag an den ungewöhnlichsten Orten zu existieren; im Backofen des Death Valleys im Westen Nordamerikas beispielsweise, das zu den trockensten und heißesten Gegenden der Erde zählt, hat man über 1.000 Pflanzen- und 400 Tierarten gezählt. Leben gibt es in der Antarktis bei minus 89 Grad Celsius genauso wie an heißen Tiefseequellen bei mehr als 100 Grad. Vögel nisten an den Kratern aktiver Vulkane, Bärtierchen überleben dank Kryptobiose sogar ungeschützt im Weltraum. 2006 entdeckte man zwei Meilen unter der Erdoberfläche in einer südafrikanischen Goldmine Bakterien, die Radioaktivität als Energiequelle nutzen; und 2015 gar zweieinhalb Kilometer unter dem Meeresboden ebenfalls putzmuntere Mikroorganismen, die dort wohl seit Millionen von Jahren siedeln.

Doch wie sieht‘s mit uns Wirbeltieren aus, etwa in der Tiefsee? Wie viel Druck hält ein Vertebrate aus? Kaiserpinguine schaffen bekanntermaßen 500 Meter, Meeresschildkröten dreimal so viel, und Pottwale kommen sogar auf bis zu 3.000 Meter Tauchtiefe. Das nachweislich am tiefsten tauchende Wirbeltier ist jedoch der Mensch. Dachte man. Doch als 1960 ein Abenteurer, begleitet von einem Marineoffizier, südwestlich von Guam zum tiefsten Punkt der Weltmeere vorstieß und aus der Panzerglasscheibe ihrer Stahlkapsel blickte, sah er im Schein der Flutlichtlampe – einen Plattfisch. In 10.916 Metern Tiefe, bei gegenüber Meereshöhe mehr als tausendfach erhöhtem Luftdruck. Ein japanischer Tauchroboter dokumentierte 1995 an fast gleicher Stelle weiteres Viehzeug: eine Seegurke, einen Ringelwurm, eine Garnele.

Nur knapp dem Tod entronnen

Man darf vermuten, dass der erwähnte Plattfisch platt, sprich: tot war – liegt doch die berechnete und durch Beobachtungen bestätigte Maximaltauchtiefe für (lebende) Fische bei nur rund 8.200 Metern. Übrigens entgingen auch die beiden U-Boot-Insassen nur knapp dem Tod: Ein 17 Zentimeter dickes Fenster der Kapsel bekam in der Tiefe einen Riss. Doch es hielt stand.

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Der Gesuchte sah solche Vorfälle pragmatisch: Angst habe er keine gehabt – dort unten sei es ja so schön friedlich und still gewesen. Ohnehin sei jedes Auto weit gefährlicher als sein Tauchgerät. Es ist plausibel, dass er wirklich so dachte, denn unser Mann entstammt einer Familie, in der es zum guten Ton gehört, extreme Unternehmungen anzugehen. Schon als Neunjähriger hatte er miterlebt, wie sein Vater, ein hervorragender Experimentalphysiker, als Ballonfahrer mehrere Höhenrekorde aufstellte – unter anderem, um die kosmische Höhenstrahlung zu messen und so die spezielle Relativitätstheorie seines Ex-Kommilitonen Albert Einstein zu beweisen. Nach einem Wirtschaftsstudium wandte sich auch der Sohn dem Entdeckertum zu; der knapp Dreißigjährige suchte die Erfüllung allerdings nicht in der Stratosphäre, sondern in den Untiefen der Weltmeere. Zusammen mit dem Vater begann er, die bis dahin unerforschte Unterwasserfauna zu erkunden, und stellte dabei bereits 1953 mit einem gemeinsam konstruierten U-Boot einen neuen Tiefenrekord auf. Sieben Jahre später erreichte er, wie oben geschildert, den Grund des Marianengrabens. Bis heute wurde dieses Bravourstück, das den Gesuchten schon zu Lebzeiten zur Legende machte, nicht wiederholt.

Sein restliches Leben engagierte er sich für Meeresforschung und Artenerhalt. Er verbrachte mit fünf Kollegen einen vollen Monat unter Wasser, um den Golfstrom zu erforschen; die dabei im U-Boot gewonnenen Erkenntnisse zum Leben und Arbeiten auf engstem Raum flossen ins Raumfahrtprogramm der NASA ein. Später gründete er eine Stiftung zum Schutz der Meere und Seen. Sein Sohn eifert als Flugpionier eher dem Großvater nach und umkreiste als erster Mensch die Erde in einem Ballon und in einem Solarflugzeug. Wie heißt sein Vater, nach dem hier gesucht wird?




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Der gesuchte, furchtlose Tiefsee-Pionier ist der Schweizer Meeresforscher Jacques Piccard (1922-2008). Der Sohn des Rekord-Ballonfahrers Auguste Piccard widmete sich ab seinem 29. Lebensjahr der Tiefsee und brach im Laufe der Jahre sämtliche bis dahin bestehenden Tiefenrekorde. Legendär machte ihn vor allem die Tauchfahrt mit dem von ihm selbst konstruierten U-Boot Trieste, mit dem er am 23. Januar 1960 die tiefste Stelle der Weltmeere, das Challengertief im Marianen-Graben (10.916 Meter Tiefe) erreichte. Angeblich diente Piccard als Vorbild für „Professor Bienlein“ in den „Tim und Struppi“-Comics von Hergé.

Erratum: Es wurde behauptet, das Bravourstück Piccards sei nie wiederholt worden. Dies ist falsch: Hollywood-Regisseur James Cameron war 2012 ebenfalls am Challengertief.