Editorial

Der zurückhaltende Inder

Winfried Köppelle


Rätsel

(29.11.2017) Er war an der Entdeckung des universellen zellulären Energieträgers beteiligt und synthetisierte eines der wichtigsten Krebsmedikamente seiner Zeit.

Der indische Subkontinent birgt Unglaubliches. Der 88-jährige Asket Prahlad Jani etwa hat seit mehr als 75 Jahren weder Nahrung noch Wasser zu sich genommen. Offenbar ernähre er sich photoautotroph und gewinne wie eine Pflanze über Sonnenlicht Energie, so die Hypothese seines Landsmannes, des Mediziners Sudhir Vadilal Shah. Meditation und beharrliches Glauben an Wunder helfe ebenfalls.

Indien hat eine Reihe herausragender Naturwissenschaftler hervorgebracht; Sudhir Vadilal Shah zählt nicht zu ihnen. Ohnehin sortiert man indische Koryphäen meist eher ins Fach der Physik und der Mathematik ein – oder sie sind Schachspieler. Allerdings gab es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Biomediziner indischer Herkunft, der die Funktion des wichtigsten zellulären Energieträgers entschlüsselte, das erste gegen Gram-positive und Gram-negative Bakterien wirkende Antibiotikum entdeckte, und kurz vor seinem Tod auch noch eines der wichtigsten Krebsmedikamente der 1950er Jahre synthetisierte. Den Namen dieses Mannes haben Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nie gehört – und es liegt nicht daran, dass er für europäische Zungen schwer auszusprechen ist.

Hierzulande praktisch unbekannt

Anfangs deutete wenig darauf hin, dass der Gesuchte brilliante Talente sein Eigen nennen könnte. Geboren kurz vor der Jahrtausendwende am Golf von Bengalen im südostindischen Bundesstaat Madras, durchlebte er eine traumatische Schulzeit, geprägt vom Tod mehrerer naher Verwandter sowie wiederholt erfolglosen Versuchen, die Abschlussprüfung zu bestehen. Sein Notenschnitt reichte für ein Begabtenstipendium hinten und vorne nicht, und so musste ihm sein späterer Schwiegervater schon während des Medizinstudiums mit regelmäßigen Geldspritzen unter die Arme greifen. Zu allem Überfluss entdeckte unser junger Student auch noch seine rebellische Seite: Er folgte den Boykott-Aufrufen Mahatma Ghandis und weigerte sich, die an den britisch geprägten Universitäten übliche Chirurgenkleidung zu tragen. Das verantwortliche Kollegium war nicht entzückt und gestand dem widerborstigen Examenskandidaten, der in den schriftlichen Prüfungen durchaus brilliert hatte, nur einen akademischen Grad zweiter Klasse zu – woraufhin sich unser Mann als Anatomie-Dozent an einer traditionellen Ayurveda-Schule verdingte.

Reich und berühmt wurde er damit natürlich nicht, und sein Mäzen war gezwungen, den bis dahin wenig erfolgreichen Schwiegerfilius auch weiterhin finanziell zu unterstützen – selbst im Ausland, denn unseren Mann zog es mit aller Gewalt nach Übersee. Der 27-Jährige bestieg ein Schiff mit dem Ziel Boston und ließ die schwangere Gattin in der Heimat zurück. In Harvard holte er das Mediziner-Diplom nach, erwarb sich zunehmend die Hochachtung seiner Fachkollegen und bekam auch endlich das eine oder andere Stipendium zugesprochen.

In den folgenden zwei Jahrzehnten verblüffte unser Mann, den Zeitgenossen als extrem scheu und gehemmt beschreiben und der eigentlich Tropenmediziner werden wollte, mit wissenschaftlichen Volltreffern, die für drei oder vier Forscherleben reichen würden: Am 8. Dezember 1925 etwa übermittelte er zusammen mit einem US-Kollegen dem Journal of Biological Chemistry eine kolorimetrische Methode zur Ermittlung des Phosphorgehalts in Geweben und Körperflüssigkeiten. Die gebrauchsfertigen Reagenzien für diesen nach seinen Erfindern benannten Assay-Klassiker stehen bis heute im Katalog von Sigma-Aldrich. In den darauf folgenden Jahren war der Gesuchte an der Entdeckung von Phosphokreatin und Adenosintriphosphat beteiligt. Weil ihm Harvard jedoch eine Dauerstelle verweigerte, wechselte er in die Industrie. Bei den Lederle Laboratories (heute Pfizer) isolierte er als Forschungsdirektor zahlreiche Antibiotika. Er entdeckte das Fila­riose-Mittel Diethylcarbamazin, das bis heute in der WHO-Liste der „unentbehrlichen Arzneimittel“ geführt wird, und synthetisierte in Zusammenarbeit mit Sydney Farber, dem „Vater der Chemotherapie“, ein bis heute verwendetes Zytostatikum. Wie heißt der Gesuchte?




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Der gesuchte, zurückhaltende Inder ist der Biochemiker Yellapragada Subbarow, oder wie er in seiner Heimatsprache Telugu geschrieben wird: యల్లాప్రగడ సుబ్బారావు (1895-1948). Obwohl seine Entdeckung der Rollen von Phosphokreatin und Adenosintriphosphat bei der Muskelaktivität sicher zu den wichtigsten des letzten Jahrhunderts gehörten, bekam er dennoch keinen festen Job an der Harvard University – ja, er erhielt gar Zeit seines Lebens keine Green Card für die USA. Dies verhinderte dennoch nicht, dass er in den Lederle Laboratories (heute Pfizer) eine Reihe weiterer wichtiger Entdeckungen machte. Unter anderem entwickelte er den Immunmodulator Methotrexat; und noch heute bestimmt man mit dem Fiske-Subbarow-Assay anorganisches Phosphat.