Editorial

Der Schuppen-Reformer

Ralf Neumann


Rätsel

(22.02.2018) Unbeirrbar ordnete er einige Grundlagen der Chemie völlig neu – und schlug so manchen Gegner mit derbem Spott aus dem Feld.

Ob im Umfeld eines aktuellen Drittliga-Fußballclubs, der zwischen 2007 und 2009 sogar noch eine Liga höher spielte, irgendjemand weiß, welcher berühmte Chemiker einst unweit der Geschäftsstelle des Vereins geboren wurde? Viele dürften es nicht sein.

Nachdem unser Gesuchter im gleichen Jahr, in dem Heinrich Heines „Wintermärchen“ erschien, sein Maturitätsexamen abgelegt hatte, zog es ihn umgehend knapp hundert Kilometer weiter nach Nordosten, um ein Medizinstudium zu beginnen. Dort fesselten ihn allerdings schon bald die Vorlesungen eines Materialienhändler-Sohnes derart, dass er auf Chemie umschwenkte. Dummerweise konnte – oder wollte – der verehrte Lehrer ihm auf mehrfache Anfrage keinen Laborplatz stellen, sodass unser Gesuchter schließlich eine Art Umweg nehmen musste: Nicht zuletzt weil ihm selbst das Geld ausging, absolvierte er das pharmazeutische Staatsexamen – und erwarb mithilfe das Vaters eine Apotheke.

Nur ein Jahr später durfte unser Gesuchter allerdings doch bei seinem auserkorenen Chemie-Professor promovieren. Umgehend hing er die Pharmazie wieder an den Nagel – und startete seinerseits eine beeindruckende Laufbahn als Chemiker.

Dies war zu seiner Zeit auf der akademischen Seite allerdings oft nicht einfach. Wie viele andere musste auch unser Gesuchter seine Habilitation selbst finanzieren. Immerhin konnte er sie 120 Kilometer südlich von seinem Geburtsort bei einem bekannten Chemie-Analytiker anfertigen.

Die Finanzierung gelang unserem Gesuchten letztlich mit einem damals nicht unüblichen Dreh: Er verquickte seine Tätigkeiten mit der damals aufstrebenden chemischen Industrie. Er wurde Teilhaber einer kleinen chemischen Fabrik und arbeitete von da an bis zu seinem Lebensende auch als Industrieberater.

Forschen und unterrichten musste er als Privatdozent jedoch vorerst weiterhin in dem kleinen Schuppen seines eigenen Grundstücks, das er – mit Unterstützung seiner reichen Schwiegermutter – bereits zu Beginn seiner Habilitation erworben hatte. In seinem Universitäts-Laboratorium gestattete der gestrenge Chemie-Ordinarius den Privatdozenten dies nämlich nicht.

Über sechzig Postdoktoranden und Studenten sollte unser Gesuchter in seinem „Schuppen“ am Ende ausbilden – darunter derart viele, später durchaus bekannte russische Chemiker, dass die Kaiserlich-Russische Regierung es ihm schließlich mit dem Sankt Anna-Orden dankte.

Ungefähr zur gleichen Zeit begann auch die Laufbahn unseres Gesuchten als Herausgeber. Über Jahrzehnte führte er von da an nacheinander mehrere wichtige Chemie-Fachzeitschriften. Und hier fand er sich schließlich in seinem Element. Denn was ihn von all den vielen Dingen, bei denen er mitmischte, am meisten umtrieb, war die Entwicklung einer neuen Theorie der Chemie. Und die trieb er jetzt in vielen Artikeln unbeirrt voran.

Die Widerstände der „Praktiker“ waren natürlich groß. So schrieb einmal ein älterer Kollege, dass die neueren chemischen Theorien unseres Gesuchten „übermütige Spekulation“ seien, die „Hypothesen auf Hypothesen“ aufbauten. Worauf unser Gesuchter nur knapp antwortete: „Ohne klare Einsicht in ihre Theorie ist es nicht möglich, eine Wissenschaft zu studieren.“ Das war noch milde, denn ansonsten hatte sich unser Gesuchter schnell den Ruf erworben, seine vielen Gegner hemmungslos mit zynischen Kommentaren sowie derbem und verletzendem Spott zu überziehen.

Was nach Abzug aller folgenden Scharmützel jedoch an wissenschaftlicher Leistung blieb, muss beeindrucken. So erkannte er unter anderem die Mehrfachbindung als allgemeines Prinzip, führte das Konzept der „Wertigkeit“ ein und begründete schließlich das System der Strukturformeln, wie es bis heute in der organischen Chemie üblich ist.

Im Alter von 58 Jahren zog er sich schließlich müde von seiner Professur an der Technischen Hochschule München zurück, wurde jedoch für das kommende Kalenderjahr noch zum Präsidenten der Deutschen Chemischen Gesellschaft gewählt. Viel Freude bereitete ihm diese Ehre allerdings nicht mehr.

Ganze 25 Jahre sollte unser Gesuchter von da ab noch leben, „chemisch“ aktiv wurde er in dieser Zeit jedoch nur noch sporadisch – in einem Forschungslabor zur Industrieberatung, das einer seiner Schüler betrieb.

Trotz seiner großen Leistungen zur chemischen Theorie – wie auch anderer praktischer Erfolge, die wir hier nicht beschrieben haben – ist sein Name heute allerdings vorwiegend wegen etwas völlig Anderem bekannt: Nahezu jeder, der auch nur vorübergehend in einem biologisch-chemisch orientierten Labor gearbeitet hat, hat „ihn“ schon einmal in der Hand gehabt. Was beweist, dass er doch auch ein großer Praktiker war.




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Der gesuchte „Schuppen-Reformator“ ist der Chemiker Emil Erlenmeyer (1825 bis 1909), der u.a. auch den berühmten, gleichnamigen Schüttelkolben erfand.