Editorial

Der gepreiste Gefangene

Ralf Neumann


Rätsel

(28.11.2019) Zwar war Schweden während der Weltkriege neutral, doch die Verleihung der Nobelpreise stand in diesen Zeiten dennoch unter ihrem Einfluss. Unser Gesuchter lieferte vielleicht das extremste Beispiel.

Erhebliche Anstrengungen von vielerlei Seiten waren nötig, damit unser Gesuchter „seinen“ Nobelpreis entgegennehmen konnte – am Ende mit doppelter Verspätung.

Als der Krieg begann, arbeitete er gerade als Assistent und Privatdozent an der Medizinischen Klinik der damaligen Donaumetropole Nummer 1. Vor allem an Chirurgie und Neurologie interessiert, hatte er sich komplett einem unserer Sinnesorgane verschrieben. Und schon damals hatte er Grundlegendes zu dessen Verständnis wie auch zu dessen Pathologie samt Diagnostik beigetragen. So simpel es klingt, aber vor allem die Temperaturabhängigkeit der Funktion dieses Sinnesorgans lieferte ihm den Schlüssel zur Aufklärung des tieferen Funktionsmechanismus. Zugleich entwickelte er auf dieser Basis einen diagnostischen Test, den manche bis heute mit seinem Namen benennen.

Die Veröffentlichung all dieser Erkenntnisse in seinem „Hauptwerk“ lag bereits sieben Jahre zurück, als die Königliche Schwedische Akademie der Wissenschaften unter dem Eindruck des gerade begonnenen Krieges verkündete, in diesem Jahr keinen Medizin-Nobelpreis zu verleihen. Ein Jahr später jedoch war unser Sinnesforscher damit „dran“: Das Komitee erwählte ihn nachträglich zum Nobelpreisträger für Physiologie oder Medizin des Vorjahres. Später sollte bekannt werden, dass er bereits in allen sechs Jahren zuvor nominiert gewesen war.

Als den Auserwählten das freudige Telegramm erreichte, saß dieser jedoch nicht am Donauufer, sondern stattdessen beim Dinner mit dem Kommandanten eines russischen Kriegsgefangenenlagers, das in der Nähe einer antiken Oasenstadt im Südosten des heutigen Turkmenistans errichtet war.

Was war geschehen? Unser ausgebildeter Chirurg hatte sich freiwillig zum medizinischen Dienst in der Armee gemeldet. Auch wenn dies gewiss nicht sein Hintergedanke war, konnte er dabei die selbstempfundene moralische Pflicht letztlich mit seinen wissenschaftlichen Interessen verbinden: Mit den vielen Kopfverletzten landete immer wieder auch konkretes „Studienmaterial“ auf den Behandlungstischen seines Feldlazaretts.

Mit dem Fall einer Festungsstadt im südöstlichen Polen geriet unser Feldarzt jedoch in russische Gefangenschaft – und wurde in das erwähnte Kriegsgefangenenlager deportiert. Aber selbst dort konnte er seine sinnesneurologischen Studien weiterführen, da der Kommandant ihn schnell als Mediziner schätzen lernte. Sehr bald wurde er eine Art Lagerarzt, sodass er als „Gefangener erster Klasse“ am Ende sogar regelmäßig mit der Familie des Kommandanten dinieren durfte.

Doch selbst Letzterer konnte nichts am Gefangenenstatus des Gepreisten ändern. Erst nach persönlicher Intervention des damaligen schwedischen Kronprinzen direkt beim russischen Zaren wurde er aus dem Lager entlassen. So erhielt er schließlich im dritten Kriegsjahr den Nobelpreis des Vorvorjahres.

Die Freude über die Rückkehr an seine Klinik währte jedoch nur kurz. Offenbar neideten ihm die Kollegen dort den Nobelpreis – und bezichtigten ihn des Plagiats und der wissenschaftlichen Unredlichkeit. Eine Untersuchung des Karolinska-Instituts fegte die Verdächtigungen jedoch vom Tisch, zudem schrieben angesehene skandinavische Kollegen extra ein Paper zu seiner Verteidigung.

Unser Gesuchter hatte damit jedoch genug von der Donaustadt. Er schnappte seine Frau und die drei Kinder – und ging dorthin, wo sie ihm so wohlgesinnt schienen: nach Schweden. Dort baute er in der alten Königsstadt eine medizinische Klinik für sein Spezialgebiet mit auf, wo er dennoch erst zehn Jahre nach der Annahme des Nobelpreises zum „Full Professor“ aufstieg.

Seine Forschung sollte jedoch von da ab wegen zunehmender gesundheitlicher Probleme nicht mehr nennenswert vorangehen. Über die Jahre erlitt der einstmalige begeisterte Bergsteiger und Tennisspieler mehrere Schlaganfälle, wodurch er seine letzten Jahre partiell gelähmt verbringen musste. Zwei Wochen vor seinem sechzigsten Geburtstag streckte ihn ein letzter Schlaganfall schließlich vollends nieder.

Damit starb er noch drei Jahre vor einem berühmten „Traumdeuter“, bei dem der angehende Chirurg und Sinnesphysiologe Jahrzehnte zuvor noch studiert hatte. In Träumen zeigen sich unterdrückte Triebe und verborgene Wünsche, lautete damals das Credo des Lehrers. Als der Student ihn einmal mit einem Traum konfrontierte, der offenbar keinerlei Wünsche offenbarte, antwortete dieser ihm: „Doch, ganz einfach: Du hattest den Wunsch, mich zu widerlegen.“

Wie heißt dessen Ex-Student.




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Der „gepreiste Gefangene“ ist Robert Bárány, nach dem ein halbes Dutzend Krankheiten sowie Funktionstests des Gleichgewichtsorgans im Innenohr benannt sind – zum Beispiel das Bárány-Syndrom oder die Bárány-Drehstarkreizprüfung.