Editorial

Die Wandervorreiterin

Ralf Neumann


Rätsel

(10.12.2021) Sie gilt als eine Pionierin der experimentellen Embryologie. Dennoch war für sie in der Männer-dominierten Forschung nach der Promotion kein Platz mehr.

„Ich bin davon überzeugt, dass wir niemals auch nur annähernd genaue Kenntnisse über den Verlauf der Wirbeltierentwicklung erlangen werden, solange wir nicht in der Lage sind, die Wanderung einzelner Zellen zu verfolgen. Wir erkennen die wachsende Masse oder die sich streckende Chorda dorsalis, aber wir verschließen die Augen vor der Tatsache, dass eine Zelle nach der anderen sich auf ihre unabhängige Mission begibt – und alleine wandert. Wer weiß, wie weit oder in welche Richtung?“

Kurz vor der Wende zum 19. Jahrhundert schrieb unsere Gesuchte diese Zeilen – und drückte damit aus, was in ihrer Disziplin, der Embryologie, damals passierte: Die Wandlung von einer bis dato rein deskriptiven zu einer experimentellen Wissenschaftsdisziplin.

39 Jahre war sie damals alt, bis zu ihrer Promotion sollte es noch zwei Jahre dauern – und danach war es mit ihrer wissenschaftlichen Karriere auch schon wieder vorbei. Dennoch erinnert sich die Fachwelt bis heute an sie als „Vorreiterin der vergleichenden Embryologie und Neurowissenschaften“.

Geboren wurde unsere „Pionierin“ 1857 an der Westküste der USA, nur neun Tage später starb ihr Vater. Nicht zuletzt deshalb wuchs sie schließlich auf der anderen Seite der USA auf, wo sie im Alter von 25 Jahren einen Abschluss an der University of Vermont erwarb.

Fünf Jahre später ging sie für zwei Jahre an die Harvard University in Boston, um Kurse zu absolvieren. Parallel startete sie erste Studien zur Segmentation des Hühnerembryos, die ihr schließlich ihre erste Veröffentlichung in der Harvard-Zeitschrift Bulletin of the Museum of Comparative Zoology einbrachten – als alleinige Autorin.

Da es für Frauen zu dieser Zeit schwierig bis unmöglich war, in den USA zu promovieren, begab sich unsere Gesuchte auf eine ausgedehnte Forschungswanderschaft. So belegte sie in den Jahren zwischen 1890 und 1898 Kurse am Marine Biological Laboratory in Woods Hole, Massachusetts, sowie an der University of Chicago und dem Bryn Mawr College in Philadelphia. Dreimal führte ihre Odyssee sie in dieser Zeit nach Europa, wo sie an den Universitäten in Freiburg und München arbeitete – sowie insbesondere an der Stazione Zoologica in Neapel, die damals von Anton Dohrn geleitet wurde. Der spätere Namensgeber dieser Station war indes nicht der einzige „große Kopf“, mit dem sie in diesen Jahren zusammenarbeitete. Vielmehr brachten ihre umtriebigen Forschungstätigkeiten sie mit einer ganzen Reihe weiterer Pioniere der experimentellen Embryologie in Kontakt – darunter Charles Otis Whitman, Edmund Beecher Wilson, Karl Wilhelm von Kupffer, Richard von Hertwig und August Weismann.

In diesen Jahren widmete sich unsere „Wanderwissenschaftlerin“ vor allem der Kopfentwicklung beim Dornhai und dem Gefleckten Furchenmolch. Aber auch in den Neurowissenschaften lieferte sie Pionierarbeit ab, indem sie am Lateralorgan des Dornhais grundlegende Mechanismen der Entwicklung des peripheren Nervensystems enthüllte oder den Ursprung und das weitere Auswachsen bestimmter Nervenfasern beim Lanzettfischchen aufklärte.

Das größte Aufsehen erregte sie allerdings, als sie in der kopfwärts gelegenen Neuralleiste des Dornhai-Embryos ektodermale Zellen identifizierte, aus denen wiederum Knorpelzellen gewisser Schädelelemente und Dentin-bildende Odontoblasten hervorgehen. Dies passte so gar nicht zur damaligen Version der Lehre von den drei Keimblättern – und stieß natürlich auf starken Widerspruch in der Forschergemeinde. Anton Dohrn jedoch verteidigte von Anfang an die Erkenntnisse seiner Mitarbeiterin – und als diese zunehmend bestätigt wurden, musste das Keimbahn-Konzept schließlich entsprechend modifiziert werden.

Zu ihrem „PhD“ kam unsere Gesuchte letztlich doch noch: 1898 wurde sie mit ihren Dornhai-Studien an der Universität Freiburg promoviert, Erstgutachter war August Weismann. Ein Jahr lang versuchte sie daraufhin, eine Stelle in den USA zu bekommen – ohne Erfolg, trotz zwölf Veröffentlichungen als alleinige Autorin in zehn Jahren Forschungstätigkeit.

Frustriert schrieb sie einem Freund: „Wenn ich die Arbeit, die ich mir wünsche, nicht bekommen kann, dann muss ich eben die nächstbeste machen.“ Diese nächstbeste Arbeit war für sie der Meeresschutz an einem arg mitgenommenen Abschnitt der US-Westküste. Als sie dort einmal eigenmächtig einen Zaun niederriss, schrieb sie dazu auf ein Schild:

„Dieser Zugang zum Strand muss zu jeder Zeit offen bleiben, wenn die Öffentlichkeit ihn passieren möchte. Ich habe in dieser Angelegenheit gehandelt, weil der Stadtrat und die Polizei [...] Männer sind und möglicherweise etwas ängstlich.“

Ein Mitglied des Stadtrats erklärte daraufhin im Zorn, dass sie doch bei der nächsten Wahl zum Bürgermeister kandidieren solle, wenn sie alles regeln wolle. Das tat sie dann auch. Und gewann.

Vier Jahre später starb sie im Alter von knapp 78 Jahren. Wie heißt sie?

Wie heißt sie?





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Die „Wandervorreiterin“ ist Julia Barlow Platt, die mit ihren Erkenntnissen zum Ursprung gewisser Hai-Knorpelzellen dafür sorgte, dass das Konzept der drei Keimblätter überarbeitet werden musste.