Editorial

Der Schnellalarmierer

Ralf Neumann


Rätsel

(13.06.2022) Als Erster erkannte er bei einem Patienten die Symptome einer bis dahin unbekannten Krankheit – und fiel ihr fatalerweise selbst zum Opfer.

Am selben Tag, als Václav Klaus in Prag mit knapper Mehrheit zum Präsidenten der Tschechischen Republik gewählt wurde, steckte 8.000 Kilometer weiter östlich gerade ein Infektionsspezialist der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mitten in der Untersuchung eines chinesisch-amerikanischen Geschäftsmannes. Dieser war zuvor mit heftigen, aber nicht ungewöhnlichen Symptomen in ein Krankenhaus der dortigen Landeshauptstadt eingeliefert worden. Allerdings entwickelte der weitere Krankheitsverlauf eine derart rasante Dynamik, dass dem hinzugezogenen WHO-Mann schnell klar war: Hier handelt es sich nicht um die ursprünglich vermutete „normale“ Krankheit, die mit ähnlichem, in der Regel aber deutlich leichterem Symptom-Mix jedes Jahr rund zehn Prozent der Weltbevölkerung „erwischt“. Und auch die gefährlichere Variante, die sich in sehr seltenen Fällen von unseren sogenannten gefiederten Freunden zu uns Menschen verirrt, schloss er gleich mit aus. Stattdessen war er sich sehr bald sicher: Der Mann hat eine neue, bislang nirgendwo beschriebene Krankheit.

Dann ging alles ganz schnell. Nur zwei Tage später hatte sich nicht nur der Gesundheitszustand des Patienten rapide verschlechtert, vielmehr hatten inzwischen auch mehrere Mitglieder des Klinikpersonals die gleichen Symptome entwickelt. Nochmals einen Tag später ließ unser Gesuchter daraufhin alle Erkrankten isolieren, kurz danach wurde das Krankenhaus unter Aufsicht der Polizei vollends von der Außenwelt abgeriegelt. Seinen Dienstherrn, die WHO, hatte der Arzt natürlich längst informiert.

Über zwei Wochen lang kümmerte er sich Tag und Nacht um die Patienten – ganz getreu seines selbstverkündeten Mottos: „Ärzte müssen in der Nähe ihrer Patienten bleiben, in der Nähe der Opfer, in der Nähe derer, die sie brauchen.“ Er sammelte Proben, probierte verschiedene Medikationen, optimierte die Infektionskontrolle – und musste dennoch einige der Infizierten sterben sehen. Darunter auch „Patient Nummer 1“, der Geschäftsmann.

Als daraufhin die Ehefrau den Arzt beschwor, auch angesichts ihrer drei Kinder auf sich zu schauen und sich zu schonen, soll dieser ihr geanwortet haben: „Wenn ich nicht in einer solchen Lage arbeiten soll, was soll ich dann überhaupt hier? E-Mails beantworten, Papier hin und her schieben oder auf Cocktail-Partys gehen?“

Wenige Tage danach erklärte die WHO das unbekannte Syndrom zur weltweiten Gesundheitsbedrohung. Auf bis dahin beispiellose Weise installierte sie in Windeseile ein Netzwerk von Experten aus elf Laboratorien – mit dem Ziel, den verursachenden Erreger zu identifizieren und einen zuverlässigen diagnostischen Frühtest zu entwickeln. Beides gelang in erstaunlich kurzer Zeit. Nur knapp vier Wochen, nachdem der Verdacht einer neuen Krankheit im Kopf unseres Gesuchten Gestalt annahm, wurde der erste effektive Test präsentiert. (Entwickelt wurde dieser übrigens im Labor eines Mannes, den große Teile der deutschen Öffentlichkeit aktuell leider als Reizfigur betrachten.)

Unser WHO-Experte bekam diesen Erfolg jedoch wahrscheinlich gar nicht mehr mit. Er starb drei Tage später im Krankenhaus einer anderen asiatischen Hauptstadt, in die er wegen eines Meetings eingereist war. Direkt nach seiner Ankunft dort verspürte er selbst die typischen Symptome. Zwei Wochen kämpften die Ärzte danach erfolglos um sein Leben. Er starb im Alter von 46 Jahren – als einer von etwa achtzig anderen, die sich rund um den Krankenhausaufenthalt von „Patient Nummer 1“ angesteckt hatten.

Sein Platz in den Geschichtsbüchern der Medizin aber bleibt: Als der Erste, der die neuartige Krankheit als solche erkannte. Zur WHO war er seinerzeit allerdings wegen ganz anderer Plagen gekommen. Zehn Jahre vor seinem Tod beauftragte die Organisation ihn, der damals als Arzt in einem Krankenhaus seiner italienischen Heimatstadt arbeitete, Hakenwürmer auf den Malediven zu studieren. Parallel absolvierte er in Rom Kurse in Medizinischer Parasitologie und weitete die Wurmarbeit bald noch auf Mauretanien aus. Gut zwei Jahre später schloss er sich dem Schweizer Zweig von Médecins Sans Frontières („Ärzte ohne Grenzen“) an, für die er wiederum Wurminfektionen in Kambodscha untersuchte. Diese Arbeiten brachten ihm endgültig einen Platz „an Bord“ der WHO, die ihn schließlich als Parasiten- und Infektionsexperten an den Ort seiner späteren, für ihn selbst leider fatalen Erstentdeckung schickte.

Kurz zuvor hatte er die Präsidentschaft des italienischen Zweigs der Médecins Sans Frontières übernommen. Als die gesamte Organisation im selben Jahr den Friedensnobelpreis erhielt, war unser Gesuchter kraft seines Amtes bei der Verleihung in Oslo dabei.

An der von ihm erkannten Krankheit erkrankten innerhalb von sechs Monaten knapp 8.500 Menschen, etwa 900 davon starben. Dann verschwand sie praktisch vom Globus – nicht zuletzt, weil die WHO aufgrund des frühen Alarms unseres Gesuchten so schnell und entschlossen reagierte.

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Der „Schnellalarmierer“ ist Carlo Urbani, der 2003 bei einem Patienten in Hanoi das vom Coronavirus-1 verursachte Schwere Akute Respiratorische Syndrom (SARS) als neuartige Krankheit erkannte.