Editorial

Bunte Mischung

Zitationsvergleich 1998 bis 2000: Ernährungsforschung
von Ralf Neumann, Laborjournal 11/2003


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Was die Ernährungswissenschaft auszeichnet, ist zugleich ihr größtes Problem: die breite Interdisziplinarität.

"Es tut sich etwas! Mit Freude kann man feststellen, dass die Ernährungsforschung in Deutschland zunehmend ins Blickfeld der "scientific community" und der nationalen Einrichtungen für die Forschungsförderung gerät." So begann im letzten Jahr Hannelore Daniel, Lehrstuhlinhaberin für Biochemie und Physiologie der Ernährung an der TU München, durchaus positiv ihren Aufsatz "Ernährungswissenschaft in Lehre und Forschung: Standortbestimmung und Entwicklungsperspektiven." Und verwies vor allem auf die starke Nachfrage nach Studienplätzen in ihrem Fach - "insbesondere im Vergleich zu klassischen Disziplinen wie der Agrarwissenschaft mit seit Jahren rückläufiger Zahl von Studienanfängern."

Doch das war es schon fast. Ab dem zweiten Absatz schreibt Hannelore Daniel hauptsächlich von den Problemen ihrer Disziplin. Probleme, die ihre Wurzeln vor allem in der stark interdisziplinären Ausrichtung des Fachs haben. Verrückt, da Interdisziplinarität in der Forschung heutzutage doch als positiv besetzt gilt. Frau Daniel aber schreibt: "Die Interdisziplinarität als Leitbild konnte aus der Disziplin wissenschaftlich bisher nicht dokumentiert werden. Gibt es gute wissenschaftliche Publikationen, die dem hohen Ziel der Interdisziplinarität gerecht werden können? Nein! Gibt es an einem der Universitätsstandorte einen tragfähigen wissenschaftlichen Verbund (Sonderforschungsbereich, Graduiertenkolleg), in dem ökotrophologische Forschung umgesetzt wäre? Nein!

Sind qualifizierte wissenschaftliche Publikationen im Spagat zwischen Natur- und Sozial- oder Wirtschaftswissenschaften überhaupt denkbar? Nein! Gibt es den qualifizierten ökotrophologischen Nachwuchs, der die universitäre Reproduktionsfunktion einer nunmehr erwachsenen Disziplin widerspiegelt? Nein! Die Zahl der wenigen habilitierten Ökotrophologen und die noch geringere der Ökotrophologen auf universitären Lehrstühlen beschreiben eindrücklich dieses Versagen der akademischen Reproduktionsfunktion in einer nunmehr fast 40-jährigen Entwicklung."


Tor-Thema Fettsucht

Als "Kernproblem der Disziplin" identifizierte Frau Daniel die " Frage nach Spezialisierung und Breite". "Versteht sich die Ökotrophologie als Wissenschaft, so muss sie Spezialisten mit Spitzenleistungen hervorbringen – egal in welchem Fachgebiet", schreibt sie. Dies jedoch könne nur in einem Umfeld von Wissenschaftdisziplinen stattfinden, die dafür die Maßstäbe setzen, so Daniel weiter. Und hier habe die Ökotrophologie ein eklatantes Defizit.


Eine derart breit aufgestellte Disziplin, in der Forscher nicht nur biochemisch, physiologisch oder molekularbiologisch arbeiten, sondern auch epidemiologisch oder verhaltensbiologisch, macht natürlich auch Probleme bei einem Zitationsvergleich. Klar, dass etwa ein neurowissenschaftlicher Artikel über die hormonelle Kontrolle der Gewichtszunahme heutzutage mehr Zitate auf sich zieht als ein Beitrag über Magenband-Operationen zur Therapie krankhafter Fettsucht.

Auch sind dadurch die Grenzen zu anderen Disziplinen stark ineinanderfließend. Das ist einerseits natürlich vor allem bei der reinen Lebensmittelchemie und -technologie der Fall, wo wir entsprechende Forscher nur berücksichtigten, wenn sie noch einen klaren Bezug zur Biologie haben. Ein Beispiel hierfür ist der Gießener Walter Hammes auf Platz 7. Zum anderen betrifft das aber auch gleich einige medizinische Disziplinen, die unter anderem auch ernährungsbedingte Erkrankungen untersuchen und bekämpfen. Vor allem die Gastroenterologie, aber auch in die Arteriosklerose- und der Diabetesforschung sind hier zu nennen.

Der Berliner Gastroenterologe Herbert Lochs auf Platz 3 ist hier ein gutes Beispiel. Und dokumentiert gleich ein weiteres Problem. Zwar ist er amtierender Vizepräsident der Gesellschaft für Ernährungsmedizin, und veröffentlicht auch durchaus einiges Ernährungsmedizinisches. Doch seine meistzitierten Artikel der Jahre 1998 bis 2000 schrieb er über die Therapie von gastrointestinalen Tumorerkrankungen oder von Morbus Crohn.

Ähnlich liegt der Fall beim Düsseldorfer Biochemiker Helmut Sies, dem mit Abstand meistzititierten unserer Top 50. Sein Thema sind freie Radikale und oxidativer Stress, und wie sich Zellen vor entsprechenden Schäden schützen können. Natürlich ist das ein ernährungsrelevantes Thema, doch viele seiner Arbeiten kann man doch als eher grundlegend biochemisch/zellbiologisch werten.

Top-Thema unter den Ernährungsforschern scheint aber vielmehr die Fettsucht sowie die hormonelle Kontrolle der Nahrungsaufnahme zu sein. Vier Publikationen über Obesitas stehen etwa unter den zehn meistzitierten Artikeln, und allein die "Obesity Biology Group" des Basler Pharmariesen Novartis brachte sieben Forscher unter die Top 50. Allen voran Alain Stricker-Krongrad, der inzwischen in die USA zu Millenium Pharmaceuticals weiter gezogen ist, auf Platz zwei.

Ein Biochemiker, ein Gastroenterologe und ein Neurowissenschaftler teilen sich also das Treppchen. Und wie um die Interdisziplinarität weiter zu dokumentieren, folgen auf den nächsten Plätzen eine Zellbiologin, ein Epidemiologe, ein Lebensmitteltechnologe, ein Molekularbiologe, eine Physiologin, ein Kinderarzt und eine Vitamin- und Atherosklerose-Forscherin. Später folgen dann noch Toxikologen, Tierzüchter, Verhaltensbiologen...

Eigentlich also kaum fair zu vergleichen, die Ernährungsforscher.



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Letzte Änderungen: 08.09.2004