Editorial

Mit Leitlinien klar im Vorteil

Publikationsanalyse 2008-2017: Herz-, Gefäß- und Kreislaufforschung
von Mario Rembold, Laborjournal 06/2019


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Illustr.: Bryan Brandenburg, CC BY-SA 3.0

Die Forschung rund ums Herz ist vor allem durch Kliniker geprägt. Die Zitierzahlen der „Köpfe“-Liste repräsentieren weniger die Forschungsaktivität als vielmehr die in der Kardiologie erworbene Expertise.

Bei Maischberger & Co. lässt sich dieser Tage wieder vortrefflich streiten über die heutige Bedeutung des Wortes „Volkspartei“. Weniger Diskussionsbedarf gibt es zum Begriff der „Volkskrankheiten“. Laut Herzbericht 2018 gingen zuletzt 37 Prozent aller Todesfälle in Deutschland auf das Konto kardiovaskulärer Erkrankungen; an zweiter Stelle folgen mit rund 25 Prozent Krebserkrankungen. Nach wie vor also die üblichen Verdächtigen – und damit ein großes Thema für die biomedizinische Forschung.

Bei diesen Zahlen dürfte es kaum überraschen, dass unser Ranking zur Herz-, Gefäß- und Kreislaufforschung vor allem durch klinische Studien geprägt ist und unsere meistzitierten Köpfe größtenteils aus den Reihen der Mediziner kommen. Darüber hinaus gibt es auch jene Wissenschaftler, die nach Zusammenhängen zwischen Ernährung, Lebenswandel und dem Sterberisiko suchen – wobei sie zwangsläufig bei den „Volkskrankheiten“ und somit auch bei „Herz und Kreislauf“ landen. Solch explorative Kohortenstudien sind sicher interessant, um Hypothesen zu generieren, die die kardiovaskuläre Forschung letztlich auch voranbringen. Trotzdem haben wir die reinen Epidemiologen hier ausgeklammert, weil sie eben doch weit weg vom Organsystem rund um Herz und Kreislauf sind. Nähmen wir auch all diese Statistik-Jäger mit in unsere Analyse, würden zudem die Grenzen zu anderen Disziplinen wie etwa den Ernährungswissenschaften verwässern.

Ebenso bleiben die Neurologen draußen, obwohl viele von ihnen mit Schlaganfall oder Arteriosklerose zu tun haben. Doch richtet sich deren Blick ja vor allem auf die neurologischen und kognitiven Auswirkungen und ist damit Thema unserer Publikationsanalyse zur klinischen Neuroforschung.

Vielzitierte Expertise

Weiterhin hätte beim Bluthochdruck der ein oder andere Nierenforscher den Sprung unter die dreißig meistzitierten Köpfe geschafft – doch auch deren Arbeit würdigen wir in einem eigenen Ranking.

Ausschlaggebend für unsere aktuelle „Köpfe“-Tabelle war letztlich die Zuordnung der Journals im Web of Science in die Kategorien „Cardiovascular System & Cardiology“ sowie „Cardiac & Cardiovascular Systems“.

Mit diesen Kriterien war es relativ leicht, etliche Namen aus dem LJ-Verbreitungsgebiet klar der Herz-Kreislauf-Forschung zuzuordnen.

Eine ganz andere Frage allerdings ist, inwiefern sich deren Zitierzahlen sinnvoll vergleichen lassen. Wir weisen regelmäßig auf diesen Punkt hin, doch diesmal verdient er besondere Aufmerksamkeit. So sammeln die meisten der gelisteten Forscher einen Großteil ihrer Zitierungen durch Veröffentlichungen von Guidelines und Definitionen kardiologischer Krankheiten. Dagegen ist nichts einzuwenden – im Gegenteil, werden wohl vergleichsweise wenige Kardiologen die Expertise mitbringen, hier wegweisend mitreden zu können. Definitionen und Richtlinien sind zudem unerlässlich, um gemeinsame Grundlagen in der Community zu etablieren: Zum einen, damit Forscher in ihren Publikationen wirklich dasselbe meinen, wenn sie dasselbe schreiben; zum anderen, um für Diagnostik und Therapie gemeinsame Standards zu etablieren.

Allerdings berücksichtigen wir beim Zitationsvergleich zwischen den Forschern eigentlich nur deren Originalartikel – oder genauer: die Publikationen, die im Web of Science als Dokumenttyp Article klassifiziert sind. In einem wissenschaftlichen Artikel stellen die Autoren neue Daten und Ergebnisse vor; die Articles repräsentieren also im Idealfall die Forschungsaktivität der beteiligten Wissenschaftler. Publikationen, die bereits zuvor veröffentlichte Ergebnisse zusammenfassen oder interpretieren, fallen eigentlich unter die Reviews und fließen daher nicht in die Zitierzahlen der „Köpfe“ ein. Eigentlich!

Konsequent uneinheitlich

Im Fall der Herz-, Gefäß- und Kreislaufforschung ordnen die einschlägigen Web-of-Science-Datenbanken jedoch einige Guidelines-Paper den Reviews zu, andere wiederum den Articles. Für unsere Auflistung der meistzitierten Publikationen haben wir Leitlinien-Paper grundsätzlich den Reviews zugeordnet, weil sie eben keine neuen Forschungsergebnisse bekanntgeben. Das war ohne größeren Aufwand „von Hand“ möglich. Für die einzelnen „Köpfe“ hingegen konnten wir die als Articles bezeichneten Paper nicht weiter separieren. Schließlich war manch ein Autor an hunderten Publikationen beteiligt; und falsch kategorisierte Arbeiten über selbst erstellte Suchfilter herauszusortieren, hätte wiederum zu Fehlern und Ungenauigkeiten geführt.

Für die Ermittlung der Zitierzahlen einzelner Forscher mussten wir uns also auf die Kategorisierung in den Datenbanken des Web of Science verlassen – und die ist eben konsequent uneinheitlich. Doch nur so konnten wir letztlich alle Forscher nach denselben Kriterien unter die Lupe nehmen.

Das bedeutet aber: Wer als Herzforscher an einem hochzitierten Guidelines-Paper mitgeschrieben hat, das als Review gekennzeichnet ist, dem nützen diese Erwähnungen fürs aktuelle Ranking nichts. Steht der eigene Name hingegen in der Autorenliste von Leitlinien, die das Attribut Article tragen, so bekommt man mitunter enormen Auftrieb für die Position in der „Köpfe“-Liste. Bei jenen Wissenschaftlern, die häufig an solchen Arbeiten mitwirken, dürfte sich die uneinheitliche Kategorisierung aber herausmitteln.

Problematisch wird es hingegen, wenn wir die hier bekanntgegebenen Zitierzahlen als Indikator für die Forschungsaktivität betrachten wollen. Wer in Gremien sitzt, die Leitlinien diskutieren, wird sicher auch medizinische Forschung betreiben. Doch was ist mit jenen Wissenschaftlern, die sich allein auf die Forschung konzentrieren und keine massenhaft zitierten Leitlinien-Paper vorzuweisen haben?

Somit sind die Zitierzahlen der meisten hier ermittelten Herz-Kreislauf-Experten völlig ungeeignet für einen Vergleich mit Forscherinnen und Forschern wie etwa Stefanie Dimmeler. Dimmelers Gruppe erforscht am Institut für Kardiovaskuläre Regeneration der Uni Frankfurt molekulare Mechanismen der Angiogenese sowie die Regeneration in Gefäßen und Herzgewebe. Einen besonderen Blick legt das Team dabei auf mikroRNAs und arbeitet mit menschlichem Probenmaterial, aber auch an Mausmodellen. Mit „nur“ 11.583 Zitierungen hat Stefanie Dimmeler es jedoch nicht unter die dreißig meistzitierten Köpfe geschafft.

Stefanie Dimmeler sei hier beispielhaft erwähnt für eine Reihe von Grundlagenforschern, die sicher im Ranking aufgetaucht wären, wenn die Guidelines-Paper im Web of Science alle als Reviews kategorisiert gewesen wären.

Dimmelers Frankfurter Kollege Andreas Zeiher von der Uniklinik Frankfurt hat es hingegen noch auf Position 27 geschafft. Auch er interessiert sich für nicht-kodierende RNA und ist eher der Grundlagenforschung zuzuordnen. 98 Artikel hat er zusammen mit Dimmeler veröffentlicht. Doch hat Zeiher überdies an mehreren als „Articles“ klassifizierten Guidelines mitgeschrieben, darunter auch die Arbeit auf Platz 2 unserer meistzitierten Reviews. Mehr als 5.000 Zitierungen gewann Zeiher allein durch zwei Guidelines-Beteiligungen hinzu, die ihm sonst für den Sprung in die oberen Dreißig gefehlt hätten.

Humangenetik mit dabei

Zum Vergleich: Paulus Kirchhof, der die Riege der meistzitierten Herz-Kreislauf-Forscher anführt, hat unter seinen zehn am häufigsten zitierten „Artikeln“ neun Guidelines-Paper. Diese allein bringen ihm schon mehr als 24.000 Zitierungen und hätten für eine Platzierung in den Top Ten genügt. Kirchhof ist zwar an der Uni Birmingham tätig, forschte aber noch bis 2011 und damit im Analysezeitraum an der Uniklinik Münster. Daher ist er hier berücksichtigt.

Wer ohne kardiologische Leitlinien-Papiere oben in der Liste landet, schafft das vor allem durch humangenetische Forschung. So etwa Heribert Schunkert (7.) vom Deutschen Herzzentrum der TU München, der nach Genloci fahndet, die mit Blutfetten und Gefäßerkrankungen in Zusammenhang stehen könnten. Auf vielen dieser Publikationen steht auch Jeanette Erdmann (9.) in der Autorenliste, die an der Uni Lübeck forscht. Mit Thomas Lüscher (26.) von der Uni Zürich gibt es außerdem einen Physiologen unter den meistzitierten Köpfen.

Hauptsächlich aber finden wir Mediziner in der „Köpfe“-Liste. Unter den Top Ten sind es sieben praktizierende Kardiologen an der Zahl. So auch Hugo Katus (4.), seit 2017 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK).

Wirkstoffe mit Wirkung

Wie eingangs erwähnt sind auch die meistzitierten Artikel der Disziplin medizinisch geprägt. Meist handelt es sich um klinische Studien, in denen die Autoren unterschiedliche Wirkstoffe vergleichen, die entweder vorbeugend gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen zum Einsatz kommen – oder aber die man Patienten verabreicht, die bereits einen kardiovaskulären Befund haben. So geschehen im meistzitierten Artikel: Die Autoren verglichen zwei Substanzen, die bei Patienten mit Vorhofflimmern das Schlaganfallrisiko verringern sollten. Hieran mitgeschrieben hat der Elektrophysiologe Stefan Hohnloser (17.) aus Frankfurt.

Auf Position sieben folgt eine humangenetische Publikation, die Genvarianten an 95 Loci beschreibt. Laut den Autoren sollen bestimmte Nukleotid-Polymorphismen signifikant mit den Plasmakonzentrationen diverser Lipide und damit womöglich auch mit koronaren Herzkrankheiten in Zusammenhang stehen. Christian Hengstenberg (18.) von der Medizinischen Universität Wien ist einer der mehr als zweihundert Autoren – ebenso wie Jeanette Erdmann (9.) und Heribert Schunkert (7.), von denen bereits die Rede war.

Im Regionalvergleich schlägt sich die Schweiz gut, denn vier Autoren forschen in Bern oder Zürich. Dreimal tauchen mit Wien und Graz die Österreicher auf. Nach Städten liegen Leipzig und München vorn – sie tauchen je viermal in den Adressen unserer meistzitierten Köpfe auf.


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Letzte Änderungen: 17.06.2019