Editorial

Sequenz-Nerds gefragt

Publikationsanalyse 2011-2020: Molekulargenetik und Genomik
von Mario Rembold, Laborjournal 9/2022


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Illustr.: AdobeStock / majcot

(06.09.2022) Mit Software-Tools für Sequenzanalysen kann man in der Community der Molekularbiologen glänzen und ordentlich Zitierzahlen sammeln. Die Hälfte der meistzitierten Artikel stellt solche Anwendungen vor.

Wie kommt man von der genetischen Information im DNA-Molekül zum Organismus? Was die vielen kleineren Moleküle dabei tun und wo die Energie für all diese Prozesse herkommt, schauen sich die Physiologen an. Und irgendwann gelangt man zur Zellbiologie und all jenen Wissenschaften, die sich bestimmten Organen und Organsystemen widmen. Doch die Regulation und Mechanismen der Genexpression – der Weg von der DNA-Struktur über RNA-Moleküle bis hin zur Translation – sind Sache der Molekulargenetiker. Ebenso wie natürlich die molekularen Mechanismen der Vererbung – also der Vervielfältigung und Weitergabe der Sequenzinformation.

Bei Ersterem überschneidet sich die Zuständigkeit durchaus mit den Proteinforschern, die indes in einem eigenen Publikationsvergleich berücksichtigt sind. Aber Transkriptomik und Proteomik lassen sich nicht immer messerscharf trennen. Zum Beispiel manipulieren Molekularbiologen mitunter gezielt die genetische Information und lassen sich dann über Reportergene und Fluoreszenz-Label auf Proteinebene „berichten“, welche Auswirkungen eine Veränderung hat. Hier aber gelangen wir schnell in Disziplinen, die wieder in eigenen Publikationsvergleichen berücksichtigt sind. Zum Beispiel die Entwicklungsbiologie, bei der zwar molekularbiologische Werkzeuge zum Einsatz kommen, aber Fragen im Mittelpunkt stehen, die weit über die Genomik hinausgehen.

Sonderfall Humangenetik

Damit sind schon mal grob die Grenzen der aktuellen Publikationsanalyse abgesteckt. Doch auch den Begriff „Genomik“ sollten wir noch ein wenig enger fassen. Fast keines unserer Rankings kommt mehr ohne Paper mit diesem Schlagwort aus – entweder tauchen diese explizit in den Artikel-Tabellen auf, oder sie verhelfen den jeweiligen „Köpfen“ zu ihren Zitierzahlen. All jene Arbeiten zu Kandidaten-Genen und Risiko-Loci für bestimmte Erkrankungen haben wir hier jedoch nicht einbezogen, eben weil diese in den jeweils dafür einschlägigen „Genres“ diskutiert sind. Auch Forscher, die hauptsächlich nach solchen Gen-Assoziationen suchen und die Genomik mit dem Fokus auf bestimmte Krankheitsbilder oder Organsysteme betrachten, sind nicht Thema dieses Rankings. Für jene unter ihnen, die dabei dennoch einen Fokus auf die Genomik legen, haben wir schließlich einen eigenen Publikationsvergleich zur Humangenetik.

Keine Regel ohne Ausnahmen: Eine der wenigen Überlappungen repräsentiert Jan Korbel am Europäischen Laboratorium für Molekularbiologie (EMBL) in Heidelberg. Ihn hatten wir zuletzt als Humangenetiker ermittelt, allerdings schaut er auch funktionell auf das Genom und sucht nach strukturellen Abweichungen im Erbgut. Dabei setzt sein Team unter anderem auch Einzelzell-Sequenziermethoden ein. Zwar blickt er dabei auf Krankheitsmechanismen, möchte diese aber auf DNA- und Transkriptomebene verstehen und nicht allein Korrelationen beschreiben, wie es sonst in vielen der Genom-Konsortien der Fall ist. Außerdem hat Korbel zum achthäufigst zitierten Originalartikel beigetragen – einer Übersicht über Variationen in mehr als tausend menschlichen Genomen. In der Liste der meistzitierten „Köpfe“ belegt Korbel den achten Platz.

Darüber hinaus stellten uns jene Proteinforscher vor eine Herausforderung, die ebenfalls an „Omics“-Projekten mitwirken. Es ist naheliegend, dass auch hier molekularbiologische Tools zum Handwerk gehören, wenn es um die Aminosäure-Sequenzen geht. Werden DNA-Daten aber nur analysiert, um auf die Funktionen von Proteindomänen zu schließen, dann sehen wir darin zunächst einmal das Protein im Mittelpunkt. Das STRING-Konsortium etwa sammelt Daten zu Proteinnetzwerken und Proteininteraktionen, und Publikationen dieser Community sind bereits in den Tabellen zur Proteinforschung gelistet. Sie bleiben in diesem Vergleich daher außen vor.

Andererseits gibt es aber Wissenschaftler wie Christian von Mering, Universität Zürich, der an STRING-Tools mitgewirkt hat und Proteinnetzwerke unter die Lupe nimmt. Darüber hinaus betreibt seine Gruppe aber auch Metagenomik, ebenso wie von Mering an diversen Analysemethoden zu Sequenzdaten mitgewirkt hat. Damit gehört er zu jenen Proteinforschern, die ihre Fühler auch deutlich in das Geschehen „vor der Translation“ ausstrecken. Folglich steht er auf Platz 5 der meistzitierten „Köpfe“.

Versammelte Omics-Experten

Während die Genomik am Menschen noch mal speziell in einem eigenen Ranking ausgelagert ist, kommen die Pflanzenforscher sonst kaum auf ihre Kosten. Obwohl es etliche unter ihnen gibt, die Sequenzdaten sammeln, ordnen, analysieren und auswerten. Arabidopsis- Genome oder Trockenheitsresistenzen von Reis und Tomate sind einige Beispiele, auch wenn keiner dieser Artikel es in die Tabelle der meistzitierten geschafft hat. Und dennoch sind die drei Autoren des am zweithäufigsten zitierten Artikels allesamt Pflanzenforscher: Björn Usadel (7.) und Anthony Bolger (11.), beide tätig am Forschungszentrum Jülich, sowie Marc Lohse (10.) von der Firma targenomix aus Potsdam haben ein Software-Tool entwickelt, um die recht kurzen Fragmente aus Next-Generation-Sequenzierungen für die weitere Auswertung vorbereiten zu können. Trimmomatic heißt die Software, und natürlich ist man damit nicht auf Pflanzensequenzen beschränkt.

Überhaupt bildet die Bioinformatik hier eine ganz große Schnittmenge, in der sich die Omics-Experten versammeln. Wobei die Vokabel „Bioinformatik“ inzwischen als etwas verstaubt gilt, öfter liest man stattdessen von der „Computational Biology“. Dabei geht es heute um weit mehr, als Sequenzen zusammenzupuzzeln; vielmehr rekonstruieren beispielsweise einige Tools für die Transkriptomik räumliche und zeitliche Expressionsprofile (siehe dazu unser Special „Bioinformatik“ in LJ 4/2022 - Link). Wer an einem derart gefragten Software-Werkzeug mitgebastelt hat, kann mit einer einzigen Publikation ordentlich Zitierzahlen einheimsen. Das macht es schwer, jemanden wie Alexander Roth (22.) von der Uni Zürich mit Forschern zu vergleichen, die im Analysezeitraum dutzende Publikationen verfasst haben. Roth reichten nämlich gerade mal neun Veröffentlichungen für seine über 16.000 Zitierungen aus.

Ein Paper, viele Zitierungen

Ebenso verdankt Charity Law (25.) beinahe 13.000 ihrer knapp 16.000 Zitierungen einer einzigen Beteiligung als Ko-Autorin. Gemeint ist der am dritthäufigsten zitierte Artikel dieses Rankings: Das darin vorgestellte Tool heißt limma und dient der Auswertung von RNA-Daten für differenzielle Expressionsanalysen. Law lebt und arbeitet in Australien, war aber zum Erscheinen besagter Publikation am Institut für Molekulare Lebenswissenschaften der Universität Zürich tätig. Sie ist eine von immerhin fünf Frauen unter den dreißig meistzitierten „Köpfen“. Das mag weit von einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis entfernt sein, doch gab es schon viele Rankings mit schlechterer Frauenquote. Das Klischee, nur Männer kämen als Programmier-Nerds in Frage, bestätigt sich in der Molekulargenetik also zum Glück nicht.

Wer sich die meistzitierten Artikel anschaut, vermisst möglicherweise jene Tools, mit denen man aus Sequenzdaten Stammbäume erstellt oder aber ribosomale RNA analysiert. Letzteres ist in der Ökologie gefragt, um prokaryotische Gemeinschaften zu untersuchen, Phylogenie und Taxonomie wiederum sind das tägliche Brot der Evolutionsbiologen. Speziell für die Molekularbiologie oder zum Verständnis des Genoms werden diese Anwendungen aber nicht entwickelt und genutzt, sodass entsprechende Publikationen hier ebenfalls ausgeklammert sind.

Grenzgänger

Kommen wir noch zu zwei Grenzfällen, nämlich dem ersten und dem letzten Platz in der Liste. Beginnen wir mit der Pole Position: Peer Bork erlangte seine mehr als 70.000 Zitierungen über eine riesige Bandbreite von Themen: Protein-Protein-Interaktionen, Mikrobiologie, das Darmmikrobiom – aber eben auch Forschungsarbeiten rund um die Molekularbiologie. Sein Team am EMBL (und zuvor am Max-Delbrück-Centrum in Berlin) ist also eine Truppe von Allroundern.

Nun ans andere Ende der Tabelle: Auf Platz 30 der „Köpfe“ steht noch mal ein Pflanzenforscher: Detlef Weigel vom MPI für Entwicklungsbiologie in Tübingen. Wie die Institutsbezeichnung nahelegt, reiht er sich zugleich auch in die Community der Entwicklungsbiologen ein. Und für die ist die Molekularbiologie ja nur Mittel zum Zweck und eben kein Selbstzweck wie bei oben genannten Software-Bastlern. Allerdings publiziert Weigel auch zu Genomen und Abweichungen der Genomgrößen in Arabidopsis und anderen Pflanzen. Auch micro-RNAs analysiert er, selbst wenn ihn dabei auch physiologische Aspekte wie die Auswirkungen auf die Flavonoid-Synthese interessieren. Nur gibt es für die Pflanzenforscher eben nicht jene Ausweichdisziplinen, wie sie in der Humanmedizin vorkommen. Unsere Vergleiche zur Physiologie, Endokrinologie oder Humangenetik sind ja allesamt medizinisch oder zumindest zoologisch geprägt, sodass wir Pflanzenexperten nicht auf jene Genres vertrösten können.

Und CRISPR?

Bei Weigel jedenfalls finden wir unter den 157 Artikeln dann doch eine solch einschlägige Menge an Genomik-Bezug – konkret fallen laut Web of Science 50 seiner Publikationen unter diese Kategorie –, dass wir entschieden, ihn auch diesmal wieder in die Liste aufzunehmen.

Um noch einmal auf die Werkzeuge der Molekularbiologen zu sprechen zu kommen: Auch CRISPR & Co. tauchen auf, nämlich im Artikel auf Platz 6 und in zwei der drei Reviews. Für die CRISPR-Mitentdeckerin und Nobelpreisträgerin Emmanuelle Charpentier vom Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin reichte es diesmal mit „nur“ 11.793 Zitierungen in 27 Artikeln allerdings nicht für einen Platz unter den meistzitierten „Köpfen“, dafür aber schaffte es ihr Kollege Martin Jinek aus Zürich auf Platz 29.

Regional gewinnt Heidelberg das Rennen, vor allem dank des EMBL. Zehn „Köpfe“ waren dort im Analysezeitraum tätig, gefolgt von Berlin mit acht Forschern, die dort mindestens zeitweise ein Zuhause hatten; gleich darauf kommt Zürich mit fünf Erwähnungen als Autorenadresse. Und auch Österreich ist immerhin dreimal durch Wien repräsentiert.


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Letzte Änderungen: 06.09.2022