Beiträge zur Biochemie seltsamer Lebewesen (11)

Die Mumie

von Siegfried Bär, Zeichnung: Frieder Wiech (Laborjournal-Ausgabe 01, 2006)


Editorial
Mumien leben nicht nur, sie leben sogar ewig. Das behaupteten die alten Ägypter - zahlreiche Dokumentarfilme wie "Die Mumie" und "Die Mumie kehrt zurück" geben ihnen recht. Der endgültige Beweis wurde in einer schwäbischen Kleinstadt erbracht.

Die geheimnisvollste Abteilung des geheimnisvollen Physiologisch-Chemischen Instituts in Tübingen war in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Abteilung Weser. Ihr Haupt, Ulrich Weser, seit 1976 C3-Professor, galt unter den Biochemie-Studenten als Original. Dieser Status ruhte auf zwei Säulen. Zum einen auf der Fliege, die Weser ständig um den Hals trug. Zum anderen auf der Mumie, die Wesers Labor mit ihrer Anwesenheit beehrte.
Editorial

Zugegeben, auch andere Professoren des Instituts konnten Bedeutendes vorweisen. Einer galt als ausgezeichneter Doppelkopfspieler, ein anderer verfügte über eine riesige Spatelsammlung, wieder ein anderer über Fingernägel, die so lang waren, daß sie sich über den Fingerkuppen zu Spiralen krümmten. Geheimnisvoll aber war das nicht. Im Gegenteil. Der Doppelkopf-Professor teilte sein Kenntnisse gerne mit und man sah ihn oft, während im Labor gemütlich die Destille blubberte, im Schreibkabuff mit drei Praktikanten "schwarze Sau" spielen. Wesers Mumie dagegen war in einem Schrank verschlossen und ein riesiger Ägypter namens Younes stand an der Bench davor und zerknirschte Knochen in einem Porzellanmörser. Unter den Biochemie-Studenten ging das Gerücht, Younes sei ein Nachfahre pharaonischer Priester und die Mumie sein Ururur-Großvater.

Die Geheimnisse des Weserlabors hatten mich zu etlichen Versuchen bewogen, bei Weser als Hiwi anzuheuern. Diese Versuche waren erfolglos. Eines Tages jedoch bat ein Doktorand Wesers mich und einen Freund um Hilfe bei einer Großisolierung von Superoxiddismutase (SOD). Dazu war es damals üblich, den Rohextrakt mit Ammonsulfat zu fraktionieren und das SOD-Präzipitat auf Sephadex zu trennen. Reinigungsfaktor und Ausbeute waren jämmerlich, man konnte die Methode aber insofern ägyptisch nennen, als Ammon oder Amun der ägyptische Gott der Herden und Weiden war. Zudem haben wahrscheinlich schon die alten Ägypter ihre SOD mit Ammonsulfatfällungen gereinigt. Wir stürzten uns mit Begeisterung auf die Arbeit.

Zwischen den Ammonsulfatfällungen fielen viele Leerstunden an, und weil in Wesers Labor Doppelkopf verpönt und es mir daher langweilig war, probierte ich mit 10 % des Rohextrakts eine alternative Reinigungsmethode aus, auf die mich ein Postdok aus der Fingernagelkräuselgruppe hingewiesen hatte. Danach wurde der Rohextrakt auf einer inerten Matrix vollständig mit Ammonsulfat ausgefällt, der Brei in eine Säule gegossen und die Säule mit einem abnehmenden Gradienten von Ammonsulfat eluiert.


Brei auf der Säule mit verblüffender Wirkung

Diese Methode gab eine 20mal größere Ausbeute als das herkömmliche Verfahren und einen ums Doppelte besseren Reinigungsfaktor: mit 10 Prozent Extrakt erhielt ich doppelt soviel SOD von höherer Reinheit als mein Freund und Wesers Doktorand, die sich mit den 90 Prozent Rest abplagten. Ich war begeistert, mein Freund staunte, und der Doktorand war sauer. Vermutlich sah er, ob des Erfolgs des Hiwis, seine Vorgesetztenwürde schwinden.

Doch damit der Wunder nicht genug. Als ich eines Abends verfroren aus Wesers Kühlraum trat, lag die Mumie auf der Bench. Ich trat näher. Es handelte sich um einen erdbraunen Torso ohne Arme, der aussah wie aus Lehm gebacken. Die Nase fehlte und aus den Schultern bröselte gelbbrauner Staub. Gerade wollte ich an die Binden rühren, da knirschte es. Ich blickte auf und sah in die schwarzen mißtrauischen Augen des Ägypters. Seine Hand umklammerte einen Mörserstößel. Langsam hob er ihn...

In diesem Moment surrte Weser ins Labor. Seine rotkarierte Fliege flatterte.

"Wer het denn wieder s'Mümle liege laa?" fragte er.

Der Ägypter neigte sich wieder über seinen Mörser und ich machte, daß ich nach Hause kam. Nachts träumte ich von einer Mumie mit Fliege und Frack, die mich um einen Sarkophag jagte, in dem auf einer Brühe von gesättigtem Ammonsulfat eine Leiche schwamm, deren Hals ebenfalls mit einer Fliege geziert war.


Das Geheimnis der Mumie

Was ist das Geheimnis von Ulrich Wesers Fliegen? Woher bezieht er diese Tierchen? Er bezieht sie nicht. Seine Frau, eine Schneidermeisterin, stellt sie aus Stoffen her, die das Ehepaar in Florenz und Mailand einkauft. Es handelt sich um Fliegen, die man schlingen muß, nicht um solche, die man fertig gebunden kauft und mit einem Gummibändchen am Kragen befestigt. Fliegen schlingen ist eine Kunst und eine Kunst ist es auch, Mumien ein Lebenszeichen zu entlocken.

Auf der Mumie schien ein Fluch zu liegen. Sie war völlig tot, nicht einmal ein Teilstück eines Enzyms war aus ihr zu erhalten. Wie Wüstensand zerrann das Projekt Weser zwischen den Fingern.

Jeder andere hätte nun eine Mumienallergie entwickelt. Nicht so Ulrich Weser. Angefeuert vom Besuch der Mumie des Ramses II in Paris, und vielleicht noch mehr von der Medienaufmerksamkeit, die dieser genoss, versuchte Weser es einige Jahre später erneut. Diesmal nicht mit einem einbalsamierten Körper, sondern mit dem luftgetrockneten Leichnam des 16-jährigen Webers Nakht, der an Trichinose gestorben war.


Was tun mit der Leiche?

Es gab im alten Ägypten verschiedene Methoden der Leichenkonservierung. Sie änderten sich mit der Zeit. So wurde im Alten Reich anders konserviert als im Mittleren. Die Konservierung hing auch von der Geldbörse der Erben ab, mit anderen Worten, es gab teure und billige Mumifizierungsmethoden. Bei der teuren wurde die Bauchhöhle geöffnet, die Weichteile entfernt und der Rest der Leiche mit Palmwein gewaschen und mit Ölen gesalbt. Danach wurde sie in Natron gelagert, einer Mischung von Natriumcarbonat, -bicarbonat und -sulfat. Zum Schluss wurde die Leiche ausgestopft und mit Ölen, Parfüms und Konservierungsmaterialien behandelt. Nach Herodot und Plinius dem Älteren spielte dabei eine Substanz namens kedros bzw. cedrium die Hauptrolle. Diese Art der Mumifizierung konnte bis zu 70 Tage dauern.

Preiswerter war es jedoch, die entkernte Leiche in die Wüste zu legen und vom heißen trockenen Wind ausdörren zu lassen. Auch damit erhielt man gute Ergebnisse. So sah das Hirn der 3200 Jahre alten Mumie des Webers Nakht aus wie gefriergetrocknetes Gewebe. Es gelang Weser daraus ein funktionelles Teilstück der SOD zu isolieren. Der erste Hinweis darauf, daß Mumien oder wenigstens Teile daraus leben!

Der riesige Ägypter hatte diesen Triumph nicht mehr erlebt. Er war zur WHO gegangen und dort zu einer Art Hohepriester aufgestiegen.

Daß gerade die SOD noch intakt sein könnte, hatte Weser aus einer Schlamperei geschlossen. Irgendjemand, vielleicht er selber, hatte nämlich eine Probe gefriergetrockneter SOD in einem Fläschchen bei Raumtemperatur zehn Jahre lang herumstehen lassen. In einem Anfall von Ordnungswahn, d.h. bei einer Laboraufräumungsaktion, war Weser dieses Fläschchen aufgefallen und anstatt es wegzuwerfen - ein Schwabe wirft so schnell nichts weg - machte er einen Enzymtest. Und siehe da: Die SOD war noch aktiv! Was aber zehn Jahre im Tübinger Institut für Physiologische Chemie überlebt, das übersteht garantiert auch 4000 Jahre im ägyptischen Wüstensand, überlegte Weser und - er hatte recht.


Warum mal tot und mal lebendig?

Dieser Erfolg beflügelte Ulrich Weser zu neuen Taten. Es ist ja in der Wissenschaft nur selten ein Experiment umsonst, und auch aus Mißerfolgen kann man lernen. Warum war die SOD in der ersten Mumie tot, in der luftgetrockneten Billigversion aber lebendig? Das mußte an den Balsamisierungsstoffen liegen, mit der die erste Mumie behandelt worden war. Die hatten das Enzym wohl inaktiviert. Man müßte daher Mumienteile untersuchen, überlegte Weser, die von den Balsamisierungstoffen nicht erreicht wurden: Das Innere der Knochen.

Eines der Leitenzyme im Knocheninneren ist die alkalische Phosphatase, ein Enzym, das fest an den Hydroxyl-Apatit der Knochen gebunden ist. Diese Bindung friert die Molekülschwingungen des Enzyms ein und stabilisiert es. In der Tat konnte Weser und seine Mitarbeiterin Yoka Kaup aus den Knochen balsamisierter Mumien funktionell intakte alkalische Phosphatase isolieren.

Blieb die Frage, was denn die entscheidende Mumifizierungsubstanz der alten Ägypter gewesen sei. Das Natron? Die Öle? Und wenn ja, welche Öle?

Hier kam Weser ein Zufall zu Hilfe. Als Grabbeigabe der Mumie Saankh-Kare fand sich im Metropolitan Museum in New York ein Töpfchen des Öls, mit dem die Mumien eingerieben worden war. Das Öl war inzwischen zu einem braunen Harz geronnen. Weser und dem Münchner Johann Koller gelang es, darin Substanzen nachzuweisen, die beim Verschwelen von Zedernholz entstehen: Guajakole und Sesquiterpene. Guajakole vernetzen die Keratine der Haut und wirken stark bakterizid. Anscheinend handelte es sich bei dem Öl in dem Töpfchen um ominöse kedros bzw. cedrium.

Dieses Zedernöl wird heute noch aus Zedernholzspänen hergestellt. Es riecht angenehm aromatisch und wird in teure Schuhcremes eingerührt. Schuhfetischisten schwören darauf. Auch ich verwende solche Cremes schon seit Jahrzehnten: Winzige Mengen genügen und das Leder glänzt wie die Sonnenscheibe des Ammon Re und riecht wie die Favoritin des Pharao, wenn sie für die Liebe zurecht gemacht wird. Banal gesagt: Der Käsegestank ist weg. Zudem halten die Schuhe ewig - wie Mumien auch.


Nicht zu schade, um's auf die Schuhe zu schmieren?

Ist Zedernöl nicht zu schade, um es auf Schuhe zu schmieren? In der Tat könnte es eine bessere Verwendung finden. Auch heute streben viele Leute nach dem ewigen Leben. Nur wenden sie untaugliche Mittel an. So räuchern sie ihre Lungen bis zu 30mal täglich mit den Verschwelprodukten von Blattpflanzen, spülen ihre Körperhöhlen mit Alkohol (statt Palmwein), schmieren sich Cremes ins Gesicht, die noch um etliches teurer sind als die erwähnte Schuhcreme, und lassen sich mit bakterizidem UV-Licht bestrahlen. Diese Leute sehen zwar nach einer Weile aus wie Mumien, aber sie leben bei weitem nicht so lange.

Wäre es nicht zweckmäßiger, statt nikotinhaltiger Blätter die getrockneten Nadeln der Zeder zu rauchen? Zudem wäre die noch zu erfindende Gesichtscreme "Nofretete" aufzutragen mit einem 10prozentigen Anteil an echtem Zedernöl. Derart innerlich und äußerlich balsamiert müßten sich die nach ewigen Leben Strebenden nur regelmäßig in Salzsole baden und würden dann unmerklich in einen mumifizierten Zustand übergehen.

"Haben Sie schon mal versucht die Kosmetik-Industrie auf das Zedernöl aufmerksam zu machen?" fragte ich Weser.

Dieser meinte, er habe schon versucht, mit seinen Mumien bei Unternehmen Geld locker zu machen, dabei jedoch keinen Erfolg gehabt. Wofür er dagegen dankbar sei, sei die Unterstützung der DFG. Dort müsse ein Mumienliebhaber sitzen, denn die Mumienanträge seien die einzigen seiner Anträge gewesen, die ungekürzt durchgegangen seien.


Letzte Änderungen: 24.04.2006