Editorial

Vorsicht! Heiß und exotisch – Kultivierung von Archaeen

von Karin Hollricher , Laborjournal 09/2020


(01.09.2020) In einem Keller der Universität Regensburg steht ein weltweit einzigartiges Zuchtlabor für Archaeen. Forscher aus der ganzen Welt bestellen dort Untersuchungsmaterial. Ein Blick hinter die Kulissen.

Über vierzig Jahre nach der Entdeckung der Archaeen ist es immer noch ganz große Laborkunst, diese Organismen zu vermehren. Ka­priziös sind nicht nur diejenigen Spezies, die unter extremen Bedingungen leben, welche sich im Labor nicht so einfach in den Griff kriegen lassen. Nein, selbst Arten mit anscheinend sehr gewöhnlicher Lebensweise entpuppen sich als echt widerspenstig. Ein Beispiel: „Jeder Mensch hat auf seiner Haut Archaeen, aber es ist trotzdem noch niemandem geglückt, diese Organismen zu kultivieren,“ sagt Harald Huber. Auch ihm ist es bisher nicht gelungen. Dabei ist der leitende Wissenschaftler des Archaeen-Biotechnikums der Universität Regensburg ein echter Künstler in dieser Disziplin.

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Harald Huber hinter der Gegenstromanlage, in der die Archaeen innerhalb von fünf Minuten auf vier Grad Celsius abgekühlt werden. Foto: Hollricher

Huber schaut auf vier Jahrzehnte Archaeen-Kultivierung zurück. Anfang der Achtzigerjahre suchte Karl Stetter, bis 2002 Professor für Mikrobiologie in Regensburg, nach Mikroorganismen, die bei extremen Temperaturen über hundert Grad Celsius leben und gedeihen. Er fand tatsächlich entsprechende Lebensformen in den von Vulkanen erhitzten Gewässern auf Island wie auch um die liparischen Inseln im Mittelmeer. Es gelang ihm, „ungewöhnliche, scheibenförmige prokaryotische Organismen“ zu isolieren und im Labor zu kultivieren, wie er 1982 in Nature schrieb (300: 258-60). Die Kulturbedingungen waren ziemlich exotisch: hundert Grad Celsius, strikt sauerstofffrei in einer Atmosphäre von Wasserstoff und Kohlendioxyd in einer Mischung von 80 zu 20, zwei Bar Druck und 15 Gramm Schwefel pro Liter Kulturmedium. Nach einer Woche war der Schwefel weg, die Organismen verbrauchten ihn ganz offensichtlich. 220 Minuten, also knapp vier Stunden, benötigten sie für eine Verdopplung bei hundert Grad Celsius; fünf Grad mehr und sie waren doppelt so schnell. Bei 110 Grad Celsius war allerdings Schluss mit dem Wachstum. 105 Grad Celsius war demnach ihre optimale Wachstumstemperatur.

Damals dachte Stetter vielleicht noch, seine Organismen seien ungewöhnliche Bakterien. Mit dieser Fehleinschätzung räumten Carl Woese und George Fox letztlich gründlich auf. Ihr Artikel „Phylogenetic structure of the prokaryotic domain: The primary kingdoms“ (PNAS 764: 5088-90) holte die Archaeen aus der Tiefe des Unbekannten empor, und seither bereichern sie den Stammbaum des Lebendigen als dritte Domäne des Lebens oder auch als „Urkingdom“.

Huber wirkt nachdenklich, als er sich an Woese und den Beginn der Archaeenforschung erinnert. Woese habe damals sehr viel Widerstand seitens seiner Forscherkollegen aushalten müssen. Er habe es nicht einfach gehabt und sei eher verschlossen denn redselig gewesen. Der Regensburger ist dagegen ein sehr eloquenter Erzähler, seine mit Fakten gespickten Anekdoten sind ausgesprochen unterhaltsam. Auch Dina Grohmann, Inhaberin des Lehrstuhls Mikrobiologie & Archaeenzentrum, hört gerne zu – obwohl sie die meisten Storys schon kennt. Als das Gespräch auf die ersten Untersuchungen von Stetter kommt, zieht sie einen Ordner heraus. „Mein Schätzchen hier enthält Laboraufzeichnungen von Karl Stetter aus dem Jahr 1979. Eigentlich unglaublich: 1979 war ich erst ein Jahr alt – die von ihm isolierten Organismen können wir aber immer noch kultivieren, und sie sind weiterhin Mittelpunkt unserer Forschung. Denn über die unterschiedlichen Archaeen weiß man einfach immer noch nicht genug.“ Im Gegensatz zu damals nutzt Grohmann hierfür heute unter anderem neueste Methoden der Molekularbiologie, wie zum Beispiel die Nanoporen-basierte Sequenziermethode.

Beinahe dicht gemacht

Die Regensburger Mikrobiologen arbeiten heute in einem schicken, neuen Gebäude. Das Biotechnikum steht allerdings in der benachbarten Physik. Grohmann berichtet, dass der Fortbestand des Biotechnikums lange Zeit zur Disposition gestanden habe. „Bei der Planung des neuen Gebäudes wurde es nicht berücksichtigt – und somit ist hier weder Platz noch sind die räumlichen Gegebenheiten passend. Dann wollte die Universitätsleitung die Anlage schließen. Aber nachdem die weltweite Archaeen-Community die Bedeutung des Biotechnikums bekundete, erinnerte man sich an den Physikkeller“, erzählt Grohmann. Und ein bisschen verschmitzt fügt sie hinzu: „Und ja, ich habe das Biotechnikum auch in meinen Berufungsverhandlungen thematisiert.“

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Dina Grohmann nennt sie ihr „Schätzchen“: Die Laboraufzeichnungen von Karl Stetter aus dem Jahr 1979. Foto: Hollricher

Was auch immer den Ausschlag gab – das Ergebnis zählt. Bevor die sechs Fermenter und der dreißig Jahre alte Dampferzeuger in die Katakomben der Physik umziehen konnten, mussten erst die Presslufthammer anrücken. Das Fundament wurde aufgestemmt, um mehr Raum zwischen Decke und Boden zu schaffen. Hunderte Meter Edelstahlleitungen wurden installiert, für Wasser, Wasserdampf, Medien und Gase. H2, CO2, N2 sowie Gemische strömen von den Gastanks außerhalb des Gebäudes in die Fermenter. Auch eine Hochleistungsbelüftung wurde installiert. Man kann ihr Zischen nicht überhören: Neuntausend Kubikmeter Luft bläst sie pro Stunde ins Biotechnikum und tauscht dabei zwanzigmal pro Stunde die Luft komplett aus.

In den frühen Tagen der Archaeenforschung war die Kultivierung der exotischen Organismen ein zentrales Thema. „Wir haben zu Beginn mehr Materialforschung als Biologie gemacht“, flachst Huber. Niemand wusste, wie man Organismen wie beispielsweise Sulfolobus acidocaldarius kultivieren kann, der bei pH 2 und Temperaturen von achtzig Grad lebt. „pH 2 ist echt extrem. Ich habe mal mit einer Pinzette ein Stückchen Fleisch reingesteckt. Das war nach drei Minuten aufgelöst.“

Edelstahl hielt die Säure zwar etwas länger aus – aber nach nur einem Monat waren Kulturgefäß und Rührwerk bis zur Unbrauchbarkeit korrodiert. Deshalb mussten die Forscher Metalle, Legierungen und Beschichtungen finden, die diesen extremen Bedingungen länger standhalten. „Wir haben die Edelstahlteile mit Kunststoff beschichten lassen. Das war sehr teuer: eine Rührwelle zu beschichten, kostete damals 5.000 DM. Aber die Teile haben immerhin ein Jahr gehalten“, erinnert sich Huber. Als ultimative Lösung des Problems entpuppte sich Titan. Das Material ist zwar sehr teuer, aber auch extrem belastbar. „Alle Rührwellen und Begasungsventile, die sie hier an den Fermentern sehen, sind aus Titan. Und wir haben in den letzten 25 Jahren nicht ein Teil verloren, nicht mal bei unserem ältesten Fermenter.“

Robuste Fermenter

In Reih und Glied stehen die Kulturgefäße im Technikum und fassen zwischen 16 bis 300 Liter. Alle sind doppelwandig, damit heißer Wasserdampf die Kulturflüssigkeit auf Temperaturen bis zu 120 Grad Celsius bringen kann. Die massiven Verschlüsse am Deckel halten bis zu fünf Bar stand. Einen Tag bevor ein Fermenter über eine spezielle Öffnung angeimpft wird, rührt Ingenieur Thomas Hader das Medium zusammen und startet das Gerät. Innerhalb von rund drei Stunden autoklaviert sich der Fermenter quasi selber. Dann beimpfen die Regensburger das Medium mit einer 200-Milliliter-Vorkultur, die sie zuvor aus fünf Mikroliter Ausgangsmaterial über mehrere Vermehrungsschritte in kleinen Druckflaschen aufgepäppelt haben.

„Manche Archaeen wachsen sehr schnell, andere unendlich langsam. Und wir wissen nicht, warum das so ist“, sagt Huber. Je nach Spezies schwankt die Ausbeute aus einem Dreihundert-Liter-Ansatz zwischen 400 mg und eineinhalb Kilo. Irgendwann – nach zwei Tagen oder erst nach zwei Monaten – ist Erntezeit. Dann öffnet Hader, der technische Leiter der Anlage, den Hahn am Boden des Kulturgefäßes und lässt das Medium samt Archaeen zur Gegenstromanlage laufen. Hier kühlt es innerhalb von fünf Minuten auf vier Grad Celsius ab. Bei langsamerer Abkühlung würden sich die Archaeen verändern, ihren Metabolismus umstellen und mitunter sogar absterben.

Nach dem Temperatursturz wird die Flüssigkeit in eine Durchlaufzentrifuge gesprüht. Die Organismen setzen sich an einer außen liegenden Teflonfolie ab. Sind auch die letzten hundert Milliliter Kulturmedium in der Zentrifuge herumgewirbelt worden, nimmt Hader die Teflonfolie heraus, friert sie in flüssigem Stickstoff ein, schabt die Archaeen bröckchenweise herunter und lagert sie bei minus achtzig Grad Celsius in der Tiefkühltruhe bis zur Auslieferung. Im Keller wird nämlich nicht nur für den Eigenbedarf produziert, sondern auch auf Bestellung. „Das hier“, sagt Hader und hält einen Beutel mit einigen Fünfzig-Milliliter-Falcon-Röhrchen hoch, „ist eine sehr wertvolle Auftragsarbeit, weil die Archaeen für NMR-Untersuchungen speziell markiert werden mussten.“ Na, dann besser schnell wieder ab in die Tiefkühltruhe.

Heikle Kultur

Nicht nur Massenproduktion, auch die Archivierung reiner Kulturen zählt zu den Aufgaben des Instituts. Weder technisch noch biologisch ist eine Reinkultur eine triviale Angelegenheit. In den „wilden Zeiten“ der Archaeenforschung zogen die Wissenschaftler Kultivate aus den Umweltproben. Dabei haben sich, das weiß man heute, die am wenigsten empfindlichen Spezies durchgesetzt. Vermutlich gingen etliche Arten verloren.

Da die Organismen nicht auf festen Nährböden wachsen, mussten einzelne Zellen aus Flüssigkeitskulturen isoliert werden. Dafür wurde am Institut eine „optische Pinzette“ gebaut, bestehend aus einem invertierten Mikroskop, einem Laser sowie einem Computer. Der HP-Vectra-Computer hat noch Diskettenlaufwerke, und der Bildschirm trägt das rundliche Design der Achtzigerjahre.

Auch wenn dieses Ensemble eher museal anmutet, funktioniert es noch und wird auch benutzt. Huber führt es vor. Unter dem Mikroskop saugt er etwas Kulturmedium in eine Kapillare. Mit dem Laser schiebt er eine Zelle etwas weiter hoch hinter eine Sollbruchstelle in dem Glas. Aber wie vermeidet er, dass giftiger Sauerstoff ins Glasröhrchen gelangt? Grinsend zeigt der Forscher auf eine Kerze, die in einem oben offenen Glas hängt. „Unter Argon, das sich unten im Glas sammelt, breche ich die Kapillare ab, ziehe dann etwas Argon in das Röhrchen und beimpfe damit eine Kulturflasche mit dieser einzelnen Zelle unter Sauerstoffausschluss. Wenn sie sich vermehrt, sind wir sicher, dass es sich um eine Reinkultur handelt. Aus diesen Kulturen werden dann Dauerkonserven in Kapillaren angelegt.“

Lagerung in der Schatzkammer

Die Kapillaren wandern dann in die Schatztruhe der Abteilung – ein mannshohes Kühlgefäß, in dem die Reinkulturen, aufbewahrt in der Gasphase von flüssigem Stickstoff bei minus 196 Grad Celsius, auf weitere Verwendung warten. Hier lagert auch der „Methusalem“ der Abteilung, den Stetter 1978 aus Island mitbrachte: Methanothermus fervidus, der sich bei kuscheligen 97 Grad Celsius am wohlsten fühlt. Heute umfasst die weltweit einzigartige Regensburger Sammlung rund 1.600 Spezies.

„Reinkulturen von Archaeen anzulegen, ist für die Forschung sehr wichtig. Mitunter ist das aber gar nicht möglich, denn in vielen Fällen benötigen sie Partner, um zu wachsen“, gibt Huber zu bedenken. Tatsächlich fanden die Forscher vor vielen Jahren auch in ihrem Schatzkästchen Mischkulturen. Die hatten sie durch damals noch sehr teures Sequenzieren identifiziert und anschließend neu aufgereinigt.

Manchmal ist das aber nicht möglich. Spezies, die zu dem sogenannten DPANN-Superphylum gehören, können beispielsweise nur in Co-Kultur vermehrt werden. In der Abkürzung steht ein N für Nanoarchaeota. Den ersten bekannten Vertreter dieses Phylums namens Nanoarchaeum equitans hatten Huber und Kollegen vor rund zwanzig Jahren an unterseeischen Vulkanen entdeckt. Kultivieren konnten sie den winzigen „reitenden Urzwerg“ nur in Anwesenheit einer weiteren Archaeen-Spezies namens Ignicoccus hospitalis (Nature 417: 63-7). „Diese Symbiosen sind ganz fragile Systeme, an deren Kultivierung viele andere Arbeitsgruppen gescheitert sind.“

Das Wort „unkultivierbar“ mag der Forscher trotzdem nicht benutzen. „Unkultivierbare Archaeen gibt es nicht. Wenn wir sie nicht vermehren können, heißt das nur, dass wir die Kulturbedingungen noch nicht kennen.“ Sie zu identifizieren, kann zur Lebensaufgabe werden. So brauchte eine Gruppe japanischer Forscher zwölf (!) Jahre, um eine Spezies aus dem erstmals 2010 beschriebenen Superphylum Asgard zu vermehren (Nature 577: 519-25; siehe auch Stichwort des Monats „Asgard Archaeen“ in LJ 5/20, S.30, oder Online). Um diese Leistung würdigen zu können, muss man die Publikation im Original lesen:

Through subsequent transfers, we were able to eliminate the Halodesulfovibrio population, enabling us to obtain a pure co-culture of the target archaeon MK-D1 and Methanogenium after a 12-year study – from bioreactor-based pre-enrichment of deep-sea sediments to a final 7 years of in vitro enrichment. We here propose the name ‘Candidatus Prometheoarchaeum syntrophicum’ strain MK-D1 for the isolated archaeon.

Alle Achtung, das zeugt von Durchhaltevermögen – und passt in keinen Dreijahres-Plan der aktuell favorisierten Programmforschung.

Gibt es aber statt Trial-and-Error nicht womöglich eine stärker zielgerichtete, hypothesenbasierte Methode? Vielleicht doch, mutmaßt Grohmann. „Das Berkeley-Labor von Jill Banfield hat vor kurzem in Zusammenarbeit mit der Gruppe von Jennifer Doudna eine neue Strategie auf bioRxiv publiziert, wie man mithilfe des als Genschere bekannten Cas9-Proteins das genetische Material von Bakterien in Original-Isolaten verändern kann, ohne dass man den betreffenden Stamm isolieren muss [doi 10.1101/2020.05.14.094862v1]. Das könnte meiner Meinung nach ein Landmark-Paper werden und auch die Isolation von Bakterienstämmen erleichtern.“

Darüber hinaus ließen sich auf Basis von Sequenzdaten von Genomen und Metagenomen begründete Vorhersagen über die Archaeen-Gesellschaften treffen. Und schließlich könne man womöglich anhand der Gene auf den Metabolismus des Organismus schließen und damit die Medien anpassen.

Archaeen sind überall

Die guten alten Zeiten, in denen die Archaeen-Forscher in der ganzen Welt herumgereist sind und Proben genommen haben, sind allerdings vorbei. Huber berichtet, dass manche Länder den Umgang mit Proben derart strikt regulieren, dass sie dort nicht mehr sammeln können. Das haben sie aber eigentlich auch gar nicht nötig, denn inzwischen scheint klar, dass es diese Organismen offenbar überall gibt, auch in Deutschland. Hier fanden die Wissenschaftler neue Spezies beispielsweise in den heißen Quellen bei Baden-Baden wie auch im kühlen Sippenauer Moor in der Nähe von Regensburg. Ja, tatsächlich – das Bild von den Extremisten unter den Lebensformen relativiert sich gerade. Es gibt Archaeen-Arten, die sich auch bei 10 oder 37 Grad in Anwesenheit von Sauerstoff wohl fühlen.

Im nächsten Jahr wird Huber zum letzten Mal die Tür des Biotechnikums hinter sich schließen – jedenfalls in offizieller Funktion. Damit hört die Kultivierung der Archaeen im Großmaßstab aber nicht auf, denn das über die Jahrzehnte angesammelte Know-how wird ständig weitergegeben. Womit sichergestellt ist, dass das Archaeenzentrum mit seiner Stammsammlung und dem Biotechnikum auch in Zukunft ein Alleinstellungsmerkmal der Universität in Regensburg sein wird.

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Ohne das Kraftwerk der Archaeen-Kultivierung ginge gar nichts: Sechs Fermenter und ein dreißig Jahre alter Dampferzeuger. Foto: Hollricher

Last Changed: 01.09.2020