Editorial

Strukturen sehen statt vermuten
Cryo-Elektronenmikroskopie mit atomarer Auflösung

Das Interview führte Karin Hollricher, Laborjournal 11/2020


(11.11.2020) Holger Stark studierte Biochemie in Berlin, in den Neunzigerjahren die Hochburg der Elektronenmikroskopie. Ernst Ruska, ihr Erfinder, war sein „Doktor-Großvater“. Heute ist Stark Direktor der Abteilung Strukturelle Dynamik am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen. Er analysiert die Struktur von Proteinen und kann sich für die Technologie ebenso begeistern wie für die biologischen Fragen, die man damit beantworten kann.

Sie haben Biochemie studiert, sich aber auch sehr viel mit der Entwicklung und Verbesserung von Hard- und Software beschäftigt, die man für Kryo-Elektronenmikroskopie benötigt. Wie kam das?

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Holger Stark Foto: MPI für biophysikalische Chemie

Holger Stark » Ich habe mit der Kryo-Elektronenmikroskopie angefangen, als die Technologie dafür noch in den Kinderschuhen steckte. In Berlin, wo Ernst Ruska arbeitete, waren viele Physiker und Entwickler, die etwas von Elektronenoptik verstanden, darunter mein späterer Doktorvater Marin van Heel. Marin war eine der beiden Personen, die die Bildverarbeitungsmethoden entwickelt haben. Der andere war Joachim Frank. Beide haben parallel die ersten Arbeiten gemacht. Frank hat den Nobelpreis bekommen, aber ich finde, van Heel hätte den genauso verdient gehabt. Ich habe also Kryo-Elektronenmikroskopie und Bildverarbeitung von Grund auf gelernt. Es kam mir all die späteren Jahre extrem zugute, Biochemie studiert und eine lange Ausbildung bei Physikern genossen zu haben. Forschern fehlt es heute leider oft am Verständnis für methodische und technologische Entwicklungen, während die Techniker meistens nicht so sehr an den Anwendungen interessiert sind. Bei mir war das anders: Was ich methodisch entwickelt habe, hatte immer einen biologischen Hintergrund. Ich war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort mit den richtigen Leuten – und daher war es eine super Zeit.

Gerade ist ein neues Paper Ihrer Arbeitsgruppe in Nature erschienen. Darin beschreiben Sie, dass man mit Kryo-Elektronenmikroskopie jedes Atom eines Proteins sehen kann. Wie haben Sie die dafür notwendige Auflösung von 1,25 Ångström hinbekommen?

Stark » Wir haben gemeinsam mit Firmen ein besseres Mikroskop gebaut und die Bildqualität verbessert, indem wir Abbildungsfehler reduzierten. Optische Fehler entstehen nämlich in Elektronenmikroskopen genauso wie in Lichtmikroskopen als Resultat von Limitierungen und Fehlern in den Linsen. Wir haben zwei Fehler korrigiert: die sphärische Aberration und den chromatischen Fehler.

Was ist der sphärische Fehler der Elektronenmikroskopie?

Stark » Magnetische Linsen verhalten sich ähnlich zu Glaslinsen in der Lichtmikroskopie mit ähnlichen Fehlerquellen. Wenn die Strahlen die Randzone einer Linse passieren, werden sie stärker gebrochen als diejenigen, die durch die Mitte gehen. Deshalb treffen sie sich nicht in einem definierten Fokuspunkt. Wie weit sich dieser Punkt verbreitert, wird durch den sphärischen Fehler beschrieben. Das lässt sich korrigieren. Einen solchen Korrektor zur Bildgebung von biologischen Proben im Transmissionselektronenmikroskop, hat Max Haider von der Firma Ceos entwickelt. Dafür wurde er gemeinsam mit Harald Rose und Knut Urban mit zwei sehr bedeutenden Preisen ausgezeichnet, nämlich 2001 mit dem Wolf Prize und dieses Jahr mit dem Kavli-Preis. Wir haben mit Haider und FEI nun ein Gerät entwickelt, das diese sphärische Abberation und den damit verbundenen Fehler, den man Koma nennt, korrigiert. Dieses Mikroskop ist der erste Aplanat der Kryo-EM.

Und was ist mit dem erwähnten Farbfehler?

Stark » Diese sphärische Korrektur benötigt leider viele Linsen, was den sogenannten chromatischen Fehler erhöht. In der Lichtmikroskopie spricht man von Farbfehler. Darunter versteht man, dass Photonen verschiedener Wellenlängen unterschiedlich von einer Linse gebrochen werden. Das Gleiche passiert beim Elektronenmikroskop: Elektronen, die im EM aus der kleinen Spitze beschleunigt werden, haben nicht alle die exakt gleiche Wellenlänge beziehungsweise Energie. Mit einem Monochromator kann man alle Elektronen nach Energie sortieren. Mit all diesen baulichen Veränderungen erhöht man die optische Qualität der Bilder und damit die maximal erreichbare Auflösung der Maschine massiv.

Sie könnten Bildfehler natürlich auch in der Software korrigieren.

Stark » Es gibt zwei Lager im Feld: diejenigen, die mit Software alles Mögliche korrigieren wollen, sowie die Verfechter der besseren Hardware, die die besseren Bilder aus dem Mikroskop holen wollen. Aufgrund meiner Erfahrung glaube ich, Hardware schlägt Software und wenn es eine Hardware-Lösung gibt, dann sollte man sie auch verwenden.

Warum?

Stark » In der Software stecken so viele Parameter und Annahmen, dass man die Fehlerbalken nicht kennt. Man korrigiert einen Fehler, ohne zu wissen, wie fehlerhaft diese Korrektur selbst ist. In der Fotografie ist es ja heute gang und gäbe, Bilder deutlich nachzubearbeiten. Wenn man aber die Datengrundlage zu stark verändert, entspricht das damit generierte Bild nicht mehr zwingend dem realen Motiv.

In der Fotografie ist das egal oder sogar aus künstlerischen Gründen gewollt.

Stark » Eine ähnliche Gefahr besteht in der EM. Aber hier ist ein solches Overfitting ein Desaster. Warum? Weil es Auflösungen vorgaukeln kann, die gar nicht da sind. Ich kann mit einer Auflösung von 3 Ångström atomare Modelle von Proteinen bauen. Dies gelingt aber nur, weil ich Annahmen darüber mache, wie die Chemie eines Proteins aussieht und anhand dieser Annahmen werden einzelne Atome platziert, ohne dass man sie als einzelne Atome sieht. Aus der Kristallografie weiß ich beispielsweise bereits, welche Bindungslängen und -winkel bei chemischen Verbindungen möglich und erlaubt sind. Dieses Wissen verwende ich beim Bauen und Verfeinern eines atomaren Modells anhand einer 3D-Struktur bei 3 Ångström Auflösung. Aber echte atomare Modelle von biologischen Molekülen und ihren Mechanismen lassen sich nicht aus einer schlechter aufgelösten Struktur extrapolieren. In der Kristallografie gibt es genügend Beispiele, wo man versucht hat, einen chemischen Reaktionsmechanismus aus einer Struktur mit 2 oder 3 Ångström Auflösung abzuleiten. Als man dann höhere Auflösungen bekam, stellte man fest, dass diese Interpretationen falsch waren.

Warum ist das so?

Stark » Ein Enzym oder Protein funktioniert nicht nach Prinzipien der Standard-Chemie. Im funktionalen Zentrum des Moleküls ist die chemische Normalität aufgehoben. Da gibt es längere und verbogene Bindungen und Winkel, die normalerweise verboten sind. Genau das aber führt zu der chemischen Reaktion. Wenn ich solche Eigenschaften sehen will, muss ich jedes einzelne Atom abbilden können, um den Mechanismus der Maschine und ihre Reaktion zu verstehen. Das ist auch wichtig für das Verständnis der Funktion von Inhibitoren im Wirkstoff-Design. Darum ist es notwendig und sinnvoll, in bessere Hardware zu investieren und ein Kryo-EM zu entwickeln, das tatsächlich Abbildungen mit atomarer Auflösung liefert, bei der man jedem Detail in der Protein-Dichtekarte trauen kann.

Sie haben den Proof-of-Principle mit Apoferritin gemacht. Dieses Molekül ist sehr strukturiert, geordnet und somit exzellent geeignet für die Kryo-EM. Was ist mit ungeordneteren Molekülen mit geringerer Symmetrie?

Stark » Die Kollegen am Laboratory of Molecular Biology im britischen Cambridge haben schon vom GABA-Rezeptor eine hochaufgelöste Struktur bekommen. Wir stecken jetzt natürlich jeden Komplex, mit dem wir auch bisher schon gearbeitet haben, in unser neues Mikroskop. Aktuell haben wir Daten zu einer Fettsäuresynthase und dem Proteasom. Beide sind größer als Apoferritin und in ihrer Struktur beweglicher. Größe ist ein kritischer Punkt, weil man dann mit dickeren Eisschichten arbeiten muss, in denen die Moleküle auf dem Probenhalter eingefroren sind. Die Dicke der Eisschicht beeinflusst die Auflösung. Obendrein haben diese großen Komplexe mehr interne Flexibilität, was die Schwierigkeit erhöht, eine hochaufgelöste Struktur zu bestimmen, da nicht alle Moleküle exakt gleich aussehen.

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Kryo-EM-Rekord: Holger Starks Gruppe löste die Struktur von Apoferritin (gelb) mit einer Auflösung von 1,25 Ångström. Dadurch werden selbst die Atome von Seitenketten sichtbar, wie zum Beispiel Tyrosin (grau). Illustration: Holger Stark MPI Göttingen

Wie weit sind Sie dann in Sachen Auflösung gekommen?

Stark » Die beste EM-Struktur für das humane 20S-Proteasom hat bisher eine Auflösung von etwa 2,6 Ångström. Wir haben jetzt eine mit 1,8 Ångström. Für die Fettsäuresynthase haben wir die Auflösung von 2,8 auf 1,9 Ångström verbessern können. Das Spleißosom, dessen Struktur bisher auf 3,2 Ångström Auflösung abgebildet wurde, ist unser nächster Kandidat. Dafür erwarte ich auch eine deutliche Verbesserung.

Ein Ångström hin oder her, was genau bedeutet das in der Welt der biologischen Chemie?

Stark » Ich will das mal so verdeutlichen: Die Verbesserung der Auflösung von 3 auf 1 Ångström steigert die Information in den Dichtekarten um fast das Dreißigfache. Das ist gewaltig viel. Bei unter 2 Ångström beginnt eine ganz neue Welt: Man beginnt, wichtige chemische Details zu sehen statt sie nur zu vermuten. Bei 1,9 oder 1,8 Ångström sind wir noch nicht am Ende. Mit Statistik können wir die Auflösung eventuell noch auf 1,5 Ångström bringen. Allerdings ist wohl bei 1 Ångström eine Grenze, die wir mit den bisherigen Geräten nicht brechen können. Dafür müssen wir die Hardware nochmals weiter verbessern.

Sie konzentrieren sich hier auf größere Molekülkomplexe. Was ist mit kleineren Strukturen?

Stark » Man könnte vermutlich auch Moleküle mit 100 bis 200 Kilodalton mit unserem Gerät abbilden, wenn wir noch einen Energiefilter einbauten, wie ihn die Gruppe in Cambridge verwendet hat. So ein Filter verbessert den Kontrast, indem er gezielt Signale entfernt, die mehr zum Rauschen als zum Signal beitragen. Noch kleinere Proteine kann man meistens sehr gut kristallisieren und dann mit Röntgenkristallografie analysieren. Auch aus biologischer Sicht sind solche kleinen Moleküle für mich persönlich nicht so spannend. Interessant sind Proteine im 200-kD-Regime, denn da gibt es unheimlich viel Biologie, beispielsweise viele Membranproteine. Und die lassen sich bekanntlich nicht einfach kristallisieren und sind somit schwerer zugänglich für die Strukturbestimmung mittels Röntgenkristallografie.

Die Probenvorbereitung ist aber auch bei der Kryo-EM ein limitierender Faktor.

Stark » Ja, das stimmt. Die meisten Probleme liegen in der Präparation, die oftmals gar nicht diskutiert wird. Wir befassen uns sehr intensiv mit der Aufreinigung der Proteine, das macht vor allem die Arbeitsgruppe meines Kollegen Ashwin Chari.

Was machen Sie denn anders?

Stark » Wir reinigen mit Dichtegradientenzentrifugation und Präzipitation und bekommen damit stabile, intakte Komplexe, die sowohl für EM taugen als auch kristallisieren. Auf der ganzen Welt werden für die Isolierung der Moleküle chromatografische Methoden verwendet. Wir aber stellten über die Jahre hinweg fest, dass Chromatografie bei fragilen Komplexen enorme Schäden verursachen kann. Partiell defekte Komplexe aber taugen weder für die EM, weil sie entweder auseinanderfallen oder aggregieren, noch für Kristallografie, weil sie nicht kristallisieren.

Welche Schäden Chromatografie verursachen kann, haben wir mit der Analyse einer Fettsäuresynthase erlebt und in diesem Jahr in Cell publiziert (180(6): 1130-1143.e20). Seit über 50 Jahren arbeitet man mit der Synthase, das ist einer der am besten studierten Komplexe überhaupt. Zu unserer wirklich großen Überraschung mussten wir feststellen, dass man fünf Dekaden lang eine nur locker gebundene Untereinheit weggewaschen und deswegen konsequent übersehen hat. Diese Untereinheit hat aber sowohl einen stabilisierenden als auch einen regulatorischen Effekt. Aus der neuen Struktur haben wir jetzt ein besseres Verständnis dafür bekommen, wie das Molekül funktioniert.

Wird die deutlich verbesserte Leistungsfähigkeit der Kryo-Elektronenmikroskopie die Kristallografie zur Nischenmethode in der Strukturbiologie machen?

Stark » Ich hoffe nicht. Leider muss ich beobachten, dass viele Kristallografen ihr Feld verlassen und EM machen. Aber die Kristallografie ist nicht ersetzbar. Sie und EM sind komplementäre Techniken mit ihren Vor- und Nachteilen. Die Kristallografie ist immer hochauflösend und arbeitet im Hochdurchsatz. Wenn man also reproduzierbar Kristalle züchten kann, kann man mehrere Hundert solcher Kristalle täglich an einer Synchrotron-Beamline messen und die Strukturen lösen. Das geht mit Kryo-EM überhaupt nicht. Der Durchsatz ist etwa zwei Größenordnungen kleiner. Die Kristallografie aufzugeben, wäre fatal. Ich bin vielleicht einer der wenigen, der das so sagt. Es gibt viele Wissenschaftler mit starken Meinungen, die die Röntgenkristallografie schon vollständig abgeschrieben haben. Das geht mir einfach zu weit, das kann ich nicht unterstützen. Ich plädiere deshalb hier ganz entschieden nicht nur für die Verbesserung der Kryo-Mikroskope, sondern auch für den Erhalt der Synchrotrons, wenn man wirklich verstehen will, wie Proteine funktionieren und eventuell für therapeutische Zwecke inhibiert werden können.

Last Changed: 11.11.2020