Ribonukleinsäuren im Scheinwerferlicht

von Henrik Müller, Laborjournal 11/2019


Editorial

(11.11.2019) Um den Zellmetabolismus zu verstehen, müssen wir unsere Protein-zentrierte Betrachtungsweise erweitern. Hochdurchsatz-RNA-Sequenzierung, Einzelzellanalysen und RNA-Strukturvorhersage zeigen, wie.

Nur ein Prozent menschlicher DNA wird in Proteine übersetzt. Der größte Teil unseres Genoms dient dagegen als Matrize für nicht-codierende (nc)RNA. Die Protein-regulierenden Funktionen von ncRNAs sind keine neue Erfindung. Selbst-replizierende RNAs gelten als Schlüsselfiguren in der Entstehung zellulären Lebens. Kurzum, RNA ist viel mehr als ein primitives Botenmolekül und Wegbereiter der Proteinmaschinerie – und zwar im gesamten phylogenetischen Baum des Lebens. Spiegelt die Diskrepanz von 145.341 Proteinstrukturen zu 1.493 RNA-Strukturen in der Proteindatenbank (www.rcsb.org) also eine Lücke in unserem Verständnis des Zellmetabolismus wider?

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Illustr.: Juliet Merz

Inzwischen ist die Extraktion von RNA Routine. Viele Hersteller bieten standardisierte Extraktions-Kits an für die Isolation von Transkriptom-RNA, mRNA und unterschiedlichen Arten von ncRNA. Auch ohne kommerzielle Kits ist die RNA-Reinigung kein Hexenwerk mehr. Mit dem gebräuchlichen TRIzol-Protokoll extrahiert man RNA mit Guanidinium-Thiocyanat, Phenol und Chloroform. Noch einfacher funktioniert das RNASwift-Protokoll des Biochemikers Mark Dickman von der University of Sheffield, UK. Anstelle giftiger und schwierig zu entfernender Chemikalien setzt es auf Zell-Lyse durch Natriumchlorid und Natriumdodecylsulfat (SDS), gefolgt von RNA-Präzipitation mit Isopropanol. Nach nur zwanzig Minuten hält der Bioforscher eine im Vergleich zum Resultat eines TRIzol-Protokolls wenig degradierte und saubere Mischung zellulärer RNA in Händen (Anal. Biochem. 512: 36-46).

Größtenteils besteht diese jedoch aus ribosomaler (r)RNA. Schlägt das Forscherherz nicht für Ribosomen, ist ein weiterer Selektionsschritt notwendig. Das bedeutet entweder, die rRNA mit RNase H abzubauen, oder eine traditionelle Harnstoff-Polyacrylamidgel-Elektrophorese (PAGE) zu starten. Letztere ist zwar unkompliziert, aber schlecht im größeren Maßstab durchzuführen und folglich ineffizient, was die Ausbeuten angeht. Weniger mühsam sind denaturierende und native Flüssigchromatographie. Beispielsweise lässt sich die Ziel-RNA durch Interaktion mit dem Bakteriophagen-Hüllprotein MS2 in einer Affini­täts­chromato­graphie separieren, wenn die Haarnadelstruktur 3‘‑markiert ist. Das alternative ARiBo-System setzt auf die Interaktion zwischen der boxB-RNA und dem N-Peptid aus dem Bakteriophagen λ. Zur Isolierung 5‘‑markierter ncRNA eignet sich der CRISPR-Tag, der wie die 3‘‑Tags nachträglich mit einer Ribonuklease entfernt wird. 5‘‑ und 3‘-Markierungen können natürlich auch kombiniert werden.

Editorial

Wer eine Reihe ähnlicher ncRNAs isolieren will, kann sein Glück auch mit Größenausschluss-, Umkehrphasen- oder Ionenaustausch-Chromatographie versuchen. Erstere basiert wie die Harnstoff-PAGE auf der Abhängigkeit des Laufverhaltens von der Sequenzlänge. Zweitere nutzt Hydrophobizitäts-Unterschiede und Letztere trennt Oligonukleotide schließlich anhand ihrer elektrostatischen Affinität – bis zu einer Sequenzlänge von etwa fünfzig Nukleotiden sogar mit Einzelnukleotid-Auflösung. Häufig muss dabei jedoch ein Aggregieren der Oligonukleotide mit hohen pH-Werten und Temperaturen unterbunden werden, was Kieselgel-basierte Chromatographie-Säulen erodieren lässt. Mit höheren Ausbeuten und fast hundert Prozent reinen Produkten sind diese dennoch meist die beste Alternative zur Isolierung der Lieblings-ncRNA. Hinweise zur Aufreinigung gibt ein Review der Donghua Universität, Shanghai (J. Chromatogr. B Analyt. Technol. Biomed. Life Sci. 1120:71-79). Wie all das alternativ mit Magnetkügelchen funktioniert und die Ziel-RNA auch noch längenselektiert wird, erklärt ein Artikel des Stuttgarter Biochemikers Tomasz Jurkowski und seiner Gruppe (PLoS Biol. 17(1): e3000107).

Was Chromatographie für die Aufreinigung, ist RNA-Sequenzierung (RNA-seq) für die Analyse von Transkriptom, Translatom und RNA-Strukturom. Sequenzierungs-Goldstandard ist die Short-read-Methode, bei der 3’‑blockierte und Fluoreszenz-markierte Nukleotide in einer Flusszelle immobilisierte cDNA-Moleküle verlängern. Der Knackpunkt ist die Adapter-Ligation zur Herstellung einer Bibliothek sequenzierbarer Nukleinsäuren. Denn PCR-Primer können nicht für unbekannte RNA-Sequenzen designt werden. Poly(T)-Primer erkennen zwar den Poly(A)-Schwanz eukaryotischer mRNAs – prokaryotische und prä-mRNA sowie ncRNA übersehen sie jedoch. Den Ausweg ermöglicht zum Beispiel die T4-RNA-Ligase-1, die unbekannte RNA oder cDNA an synthetische Adapter-Oligonukleotide knüpft.

Im vergangenen Jahrzehnt löste die Short-read-RNA-seq Gel-basierte-Systeme und Kapillarsequenzierung komplett ab, wodurch sich der Durchsatz an Kilobasen pro Gerät und Tag exponentiell erhöhte. Die Effizienz der Methodik spiegelt sich in beinahe einhundert RNA-seq-Methoden wider. Der Marktführer Illumina bietet eigens ein Software-Tool an, um die passende Sequenzierungsmethode auszuwählen (https://emea.illumina.com/science/sequencing-method-explorer.html).

Spannung steigt

In die Zukunft weisen indes zwei andere Methoden: Die Long-read-cDNA-seq, entwickelt von der US-Firma Pacific Biosciences, die noch in diesem Jahr von Illumina für etwa 1,2 Milliarden US-Dollar aufgekauft wird, wenn alles glatt läuft; sowie die von der britischen Firma Oxford Nanopores auf den Markt gebrachte Long-read-RNA-seq. Die Long-read cDNA-seq detektiert Fluoreszenz-markierte Nukleotide, sobald sie von immobilisierten Polymerasen am Boden von Nanowell-Chips an individuelle cDNA-Moleküle geknüpft werden. Bei der Long-read-RNA-seq detektieren dagegen elektrische Sensoren Nukleotid-spezifische Änderungen im Ionenstrom, wenn individuelle RNA-Moleküle durch die Nanoporen einer unter elektrischer Spannung stehenden Polymer-Membran wandern. PCR-Amplifikation und cDNA-Synthese sind hier nicht mehr nötig. Im Gegensatz zu den 200 Basenpaaren kurzen cDNA-Fragmenten des Short-read-Verfahrens sind die langen Reads ein bis fünfzig Kilobasenpaare lang. Die Sequenzierungsfragmente müssen nicht mehr mühsam zusammengepfriemelt werden, ncRNA-Moleküle können daher komplett sequenziert werden. Das vereinfacht Transkriptom-Analyse und Detektion von RNA-Isoformen erheblich. Gleichzeitig verringert es die hohe Rate falsch detektierter Spleiß-Stellen, die in neunzig Prozent aller humanen Transkripte vorkommen. Die Long-read-RNA-seq detektiert außerdem Ribonukleotid-Modifikationen wie etwa N6‑Methyl-Adenosin.

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Auch in der Zelle herrscht ein schier undurchschaubares Durcheinander: Welcher RNA-„Schnipsel“ bindet wo? Foto: Pixabay / stux

Dem geringeren bioinformatischen Aufwand stehen allerdings noch bis zu zwei Größenordnungen höhere Sequenzier-Fehlerraten gegenüber. Während Short-read-Methoden 109 bis 1010 Einzelmoleküle pro Probe sequenzieren, sind es bei Long‑read-Verfahren überdies nur 106 bis 107. Eine Einführung in die sich schnell entwickelnde Welt der RNA-seq liefert ein Review von Rory Stark und James Hadfield vom Cancer Research UK Centre Cambridge (Nat. Rev. Genet., doi: 10.1038/s41576-019-0150-2).

Das Geheimnis des Lebens

Micro (mi)RNA, small interfering (si)RNA und piwi-interacting (pi)RNA bringen zusätzliche Herausforderungen mit sich. Sie sind nur zwanzig bis dreißig Nukleotide lang und oft 3‘‑terminal modifiziert, etwa mit 2‘‑O-Methyl. Dies reduziert die Effizienz der 3‘‑Adapter-Ligation nachhaltig. Auch unterschlagen Ligationsprotokolle häufig bestimmte RNA-Sequenzen, wodurch die dazugehörenden Expressionsstärken nicht korrekt repräsentiert werden. Die Bioingenieure um Erwin van Dijk am Pariser Institut de Biologie Intégrative de la Cellule verglichen deshalb kommerzielle Low-­bias-Kits (BMC Genomics., doi: 10.1186/s12864-018-4491-6). Einen Goldstandard konnten sie jedoch nicht finden. Die Herstellung von Sequenzbibliotheken muss weiterhin auf die gewünschte Art ncRNA-optimiert werden.

Eine methodische Erweiterung stellte die Arbeitsgruppe von Nikolaus Rajewsky vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin dieses Jahr vor (Nat. Methods., doi: 10.1038/s41592-019-0503-y): „Mit FLAM-seq sequenzieren wir zum ersten Mal nicht-codierende poly(A)-Schwänze komplett. Interessanterweise enthalten sie mehr Cytosine als angenommen. Und ihre Längen korrelieren mit alternativen Promotoren. Wir sind gespannt, was das für die Genregulation bedeutet.“

Mit Blick auf das große Ganze zeichnet Rajewsky, Professor für Systembiologie, einen weiteren Trend nach: „Das Geheimnis des Lebens liegt darin, dass einzelne Zellen früh programmiert werden und später spezifische Funktionen ausüben. Homogenisate vieler Zellen zu sequenzieren, bringt unser Verständnis somit nicht weiter. Deshalb fingen wir 2015 mit der Einzelzell-Sequenzierung an, um zu sehen, wie die zelluläre Entwicklungsdynamik auf RNA-Expressionslevel in Raum und Zeit organisiert ist.“ Schlüsselkonzept der Single-cell-(sc)RNA-seq ist eine Vereinzelung von Zellen durch Mikropipettierung, Durchflusszytometrie, Mikrofluidik-Chips oder eine Markierung mit In-situ-Barcodes. Bis zu 105 Zellen können so gleichzeitig auf ihre RNA-Expressionsmuster untersucht und in diskrete Zellpopulationen unterteilt werden. Projekte wie der Human Cell Atlas (https://www.humancellatlas.org/) und die NIH Brain Initiative (https://braininitiative.nih.gov/) streben an, alle humanen Zelltypen anhand ihrer Sequenzierungsmuster zu identifizieren.

Kommerzielle Kartenschreiber

Doch Rajewsky geht weiter: „Alles ist ein Gewebe, also eine räumliche Organisation von Zellen. Um die interzelluläre Signalübermittlung via RNA zu verstehen, brauchen wir molekulare 3D-Karten, die das Gewebe reflektieren.“ Spatial-Omics-Technologien helfen dabei, diese räumlich codierten Transkriptome zu erstellen. Zunächst hybridisiert man Ziel-RNAs aus Gewebeschnitten mit cDNA-Primer-beschichteten Mikroarrays. Sequenzierungs-Daten werden dann auf die Mikroarray-Koordinaten zurückprojiziert, was in den letzten drei Jahren ein 2D-Transkriptom-Profiling von Mäusehirn-, Brustkrebs- und Herzmuskelgewebe ermöglichte. Ansonsten kann auch ein Infrarot- oder Ultraviolett-Laser den gewünschten Gewebeausschnitt selektiv mit einer thermoplastischen Membran verschmelzen, die dann als räumlich codierte Sequenzierungs-Oberfläche dient.

Eine bioinformatische Alternative namens novoSpaRc beschreibt ein Artikel von Rajewsky et al. (Nature, in press): Die Gruppe rekonstruierte räumliche Zellpositionen anhand ähnlicher Transkriptom-Profile benachbarter Zellen. Kommerziell bietet bisher nur die Firma 10XGenomics (https://www.10xgenomics.com/) Spatial-RNA-Transkript-Omics an.

RNA-seq kann außerdem intra- und intermolekulare RNA-Wechselwirkungen charakterisieren. Der Düsseldorfer RNA-Biophysiker Gerhard Steger, gleichsam einer der letzten deutschen Viroidforscher, erklärt: „Beim SHAPE-seq blockieren chemische Markierungsreagenzien, wie zum Beispiel Acylimidazol, die reverse Transkription zugänglicher RNA-Abschnitte. Beim enzymatischen Mapping dagegen setzen Einzelstrang-Nukleasen wie die S1-Nuklease oder Doppelstrang-Nukleasen wie RNAse-V1 spezifische Schnitte. Nach der RNA-Sequenzierung liefert beides komplementäre Aussagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit Nukleotid-Basen gepaart sind oder nicht. Vorhersageprogramme können mit dieser Information auf die Strukturiertheit und Interaktion von RNA-Abschnitten schlussfolgern.“ Während Nukleasen die Zellmembran aber nicht durchdringen können, sind chemische Markierungsmethoden auch in vivo anwendbar.

Verfahren zur Identifikation RNA-bindender Proteine beruhen dagegen häufig auf einer Methode namens PAR-CLIP. Diese kombiniert eine photochemische In-vivo-Vernetzung von RNA und Protein mit Protein-Immunopräzipitation und einer anschließenden RT-PCR der gebundenen RNA. Markus Landthaler, Professor für RNA-Biologie am MDC Berlin und einer der drei PAR-CLIP-Erfinder, erläutert: „PAR-CLIP basiert auf Nukleosid-Analoga wie 4-Thio-Uridin und 6-Thio-Guanosin. Deren Crosslinking induziert T-zu-C- beziehungsweise G-zu-A-Mutationen während der reversen Transkription zu cDNA. Die Positionen der Mutationen wiederrum verraten die Bindungsstelle von RNA und Protein.“

Unbekannte Bindungen

Einmal mehr erlaubt Illuminas Sequencing Method Explorer den vielleicht besten Überblick über gängige Verfahren (https://emea.illumina.com/science/sequencing-method-explorer.html). Die Details neuer Varianten wie Individual-Nucleotide Resolution (i)CLIP und Enhanced (e)CLIP erörtert ein Review von Flora Lee und Jernej Ule vom Francis Crick Institute, London (Mol. Cell., doi: 10.1016/j.molcel.2018.01.005). Landthaler sieht voraus, wo deren Entwicklung hingeht: „CLIP-Methoden auf Einzelzellen anzuwenden. Und Varianten zu entwickeln, die Protein-RNA-Interaktionen subzellulär auflösen.“

Das fundamentale Problem bei all dem erläutert Rajewsky: „Unheimlich viele RNAs binden Proteine unspezifisch oder wenig spezifisch. Wie filtert man diese heraus? Indem man über Jahre die besten internen Qualitätskontrollen identifiziert.“ So geschehen in einem Artikel von Rajewskys Arbeitsgruppe (Nat. Commun., doi: 10.1038/s41467-019-12050-7.): Sie verglich Vernetzungsstrategien basierend auf Paraformaldehyd, auf 254 nm UV-Licht und auf 4‑Thio-Uridin plus 365 nm UV-Licht in Caenorhabditis elegans, kombinierte das Ganze mit sRNA-Sequenzierung und identifizierte so native mRNA-spezifische Protein- und miRNA-Interaktionen.

Finden sich im Nasslabor keine Interaktionspartner für die Lieblings-ncRNA, lässt sich die Aufklärungsarbeit auch in silico fortführen. So schätzen die Programme BLAST, BLAT und GMAP das Codierungspotenzial einer Sequenz als Ähnlichkeit zur Sequenz bekannter Transkripte ein. Das ist überraschend komplex, weil repetitive Abschnitte, multiple Isoformen und ein Wechselspiel codierender und nicht-codierender Abschnitte das Sequenz-Alignment verwirren. Einen großen Fortschritt bei der Dateninterpretation ermöglichen Methoden, die auf maschinellem Lernen basieren. Werkzeuge wie CPAT, FEELnc, IncRScan-SVM und NRC setzen nicht auf Homologie, sondern gewichten Charakteristika wie Transkriptlänge, Nukleotid-Komposition, Codon-Verwendung und Länge des offenen Leserahmens.

Besonders schwierig zu klassifizieren sind lange ncRNAs infolge ihrer Ähnlichkeit zu ­mRNA. Potenzielle Kandidaten müssen deshalb zusätzlich auf Sekundärstruktur, konservierte Promotoren und Spleißstellen sowie Chromatin-spezifische Signaturen abgeklopft werden. IT-Standardwerkzeuge, die all das berücksichtigen, existieren noch nicht. Weshalb Datenbanken wie GENCODE und NONCODE 17.910 bis 96.308 humane, lange ncRNAs verzeichnen.

Familiärer Zuwachs

Insgesamt existieren laut der Datenbank Rfam (https://rfam.xfam.org/) mindestens 3.016 ncRNA-Familien. Und ihre Anzahl wächst. Denn durch vergleichende Genomik detektiert zum Beispiel MiRDeep tierische miRNA, während PIPmiR das Gleiche für pflanzliche miRNA tut. DARIO prognostiziert darüber hinaus Small Nucleolar (sno) und tRNA. Für miRNA-Interaktionspartner ist PicTar die erste Wahl. CRISPRmap findet Erkennungssequenzen für Endoribonukleasen. CoFold dagegen berechnet die Sekundärstruktur einzelsträngiger RNA. RNA-RNA-Wechselwirkungen berechnet auch RNAup für Sequenzlängen von bis zu 5.000 Nukleotiden. IntaRNA ist dahingehend auf miRNA spezialisiert. Und RNApredator geht das Ganze gleich Genom-weit an. Eine Übersicht über RNA-Analyse-Werkzeuge bietet der Freiburg-Galaxy-Server (https://github.com/bgruening/galaxy-rna-workbench).

Ebenso umfangreich ist die Liste spezialisierter RNA-Datenbanken: Allein 115 für miRNA, 25 für lange ncRNA, sieben für virale ncRNA und drei für zirkuläre RNA. Ihre Vielzahl erklärt Peter Stadler, Professor für Bioinformatik an der Universität Leipzig: „ncRNA sind halt keine homogene Klasse. Für jede Art ncRNA müssen wir andere Daten speichern.“ RNA-Biophysiker Steger ergänzt: „In vielen Datenbanken steckt ein ordentlicher Faktor Nicht-Relevantes. Denn oft mangelt es am experimentellen Nachweis einer Funktion. Viele Knockouts sind entweder direkt letal oder es passiert nichts, weil die Versuchsbedingungen für eine phänotypische Ausprägung unbekannt sind.“ Glücklicherweise existiert mit The Non-coding RNA Database Resource (https://ncrnadatabases.org/) ein Webportal, dessen Suchoberfläche RNA-Datenbanken nach den eigenen Ansprüchen filtert.

Molekularer Modellbau

RNA-Primär- und Sekundärstruktur sowie deren intermolekulare Wechselwirkungen sind also in vitro und in silico oftmals greifbar. Anders sieht es für die Tertiärstruktur aus. Deren Aufklärung erläutert Stadler: „Wir beginnen mit nahen Verwandten bekannter RNA per Sequenzvergleich und bauen Sequenz-Struktur-Modelle, die wir dann mit einem Genom-weiten Vergleich validieren. Die Flaschenhälse sind das anfängliche Modell und die Kuration der Treffer. Beides geht nur per Hand.“

Doch so geradlinig das klingt: Für Faltungsvorhersagen müssen neben der Primärsequenz auch Nukleotid-Komposition, Sequenzlänge und Leseraster gewichtet und thermodynamische Stabilitätsparameter abgeleitet werden. Da die Sekundärstruktur von ncRNAs oft konservierter ist als ihre Primärsequenz, etablieren Methoden wie ERPIN, Infernal und RNAz Ähnlichkeit über ein Struktur-Alignment. Deren Defizite sind klar: Da sie auf einem Vergleich mit Bekanntem beruhen, können sie weder neue ncRNA noch solche mit flexibler Struktur vorhersagen. Einen Überblick über Vorhersagemethoden gibt ein Review von Yi Zhang et al. der Hebei University of Science and Technology, China (Biomed. Res. Int., doi: 10.1155/2017/9139504).

Über den aktuellen Engpass sind sich Bioinformatiker Stadler und Biophysiker Steger einig. Stadler dazu: „RNA-Strukturvorhersage funktioniert schlecht, weil experimentelle Vergleichsdaten von wenigen kleinen Modellmolekülen stammen, meist rRNA. Wir brauchen möglichst viele, unterschiedliche, experimentell vermessene RNA-Strukturen, um Vorhersagemethoden zu eichen.“ Steger begründet den methodischen Flaschenhals folgendermaßen: „RNA ist als Polyelektrolyt notorisch schlecht darin, für die Röntgenkristallographie notwendige Kristalle zu bilden. Lieber macht es verrückte Basenpaare, die nicht der In-vivo-Einzelstruktur entsprechen. Aus gleichem Grund sehe ich Kryo-EM-Grids skeptisch. Per NMR die wenigen Basenpaare zu identifizieren, die eine RNA-Tertiärstruktur ausmachen, ist ebenfalls schwer. Mal ganz abgesehen von dem Problem der NMR, dass bei einer Größe von hundert Nukleotiden Schluss ist.“

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Teilweise mehrmals im Jahr veröffentlicht der Gemeinschaftswettbewerb RNA-Puzzles eine RNA-Sequenz, anhand der Kristallographen und Co. die 3D-Struktur vorhersagen sollen. Die Kristallstruktur des zweiten Puzzles zeigt ein Quadrat. Illustr.: RNA Puzzles /Thomas Hermann
Hürden bei der Berechnung

Seit 2011 ermutigt deshalb ein jährlicher Gemeinschaftswettbewerb namens RNA-Puzzles (http://www.rnapuzzles.org/) Kristallographen, Kryo-EMler und NMRler, RNA-3D-Strukturen zur Verfügung zu stellen und Bioinformatiker, deren Struktur vorherzusagen. Die besten Vorhersagen haben mittlere quadratische Abweichungen (RMSD) von 2,3 bis 10 Å, zumindest für Sequenzen mit weniger als hundert Nukleotiden. Etwa neunzig Prozent aller Watson-Crick-Basenpaare können korrekt vorhergesagt werden. Über die Sekundärstruktur hinausgehende Nicht-Watson-Crick-Basenpaare dagegen sind schwierig und die Haupthürde derzeitiger 3D-RNA-Strukturberechnungen. Denn Sekundärstruktur beschreibt reale RNA-Konformationen nur mangelhaft.

Peter Stadler relativiert: „Die Dynamik von RNAs können wir auf Sekundärstruktur-Ebene schon gut modellieren, ihre thermodynamische Stabilität und den energetischen Aufwand zur Bindung eines Proteins quantifizieren.“ Inwieweit 2D-Modelle helfen, konformationelle Dynamiken etwa von Riboswitches und Ribozymen aufzuklären, wird sich noch zeigen.

Für die Zukunft molekularer Analyse prophezeit Nikolaus Rajewsky: „Die nächsten großen Einsichten kommen durch das Verständnis der Kompartmentalisierung. Das Wechselwirkungs-Netzwerk kleiner RNA-Protein-Kondensate ohne klassische Membranen ist fundamental für die Zelle, denn die Funktion von ncRNA ist abhängig von ihrem subzellulären Ort.“

Diese und weitere Hot Topics wie etwa zirkuläre ncRNA, chemische Modifikationen von ncRNA und Antisense-Oligonukleotide werden mit Sicherheit auf dem nächsten Mosbacher Kolloqium der Gesellschaft für Biochemie und Molekularbiologie vom 2. bis 4. April 2020 diskutiert werden. Denn dieses Jahr steht es unter dem Motto: „The World of RNAs“. Noch weiter in die Zukunft blickt die von Rajewsky koordinierte pan-europäische Initiative LifeTime aus bisher neunzig Forschungsinstituten und siebzig Firmen, die RNA-Biologie und Einzelzell-Analysen auf menschliche Krankheiten anwenden will. Doch das ist Teil eines anderen Artikels.



Last Changed: 10.11.2019