Editorial

Darwinsche Schwelle

von Katharina Hien (Laborjournal-Ausgabe 09, 2002)


Fast 150 Jahre, nachdem Charles Darwin seine revolutionäre Theorie über die Entwicklung von Arten in seinem Buch "The Origin of Species" niederschrieb, gilt sein Wort immer noch. Neue Ideen zur Evolution müssen sich an seiner Theorie messen lassen - und das, obwohl Darwin seinerzeit die modernen Erkenntnisse der Genetik und Molekularbiologie noch nicht vorlagen.

Nach den Vorstellungen des modernen Darwinismus variiert der Genpool einer Art aufgrund von Genmutationen. Durch natürliche Selektion erlangen diejenigen Individuen einen Fortpflanzungsvorteil, die am besten an die momentanen Umweltbedingungen angepasst sind. Somit entwickelt sich die Population in einer für sie günstigen Richtung weiter. Neue Arten entwickeln sich vor allem aus dem Wirkgefüge zwischen Mutationen und Umweltänderungen, wie etwa nach der Besiedelung neuer Lebensräume.

Doch wie entstanden die ersten Arten überhaupt? Wie schälten sich aus Kohlenstoffketten im Urozean eigenständige Zellen heraus - die Grundlage unserer Lebensformen? Bei diesen Fragen hilft selbst die Endosymbiontentheorie von Lynn Magulis nicht grundlegend weiter, da sie von bereits organisierten Zellarten ausgeht, die sich zu einer Eukaryoten-Urzelle zusammenschlossen.


Gene gingen hin und her

Zum Thema meldete sich jetzt Carl Woese von der University of Illinois, Urbana-Champaign. Offenbar hält er die Zeit wieder reif für Umwälzungen - wie bereits Ende der siebziger Jahre, als er die Archäen von einer Bakterien-Untergruppe zu einer eigenen Domäne des Lebens beförderte. In seinem jüngsten Artikel formuliert er nun eine neue Theorie der Entwicklung früher Zelltypen und rüttelt an Darwins Doktrin, alles Leben sei auf eine Urzelle zurückzuführen (PNAS 99, S. 8742). Seine Grundidee: Bevor es graduelle Evolution nach Darwins Vorstellung gab, existierte eine Ära, in der Erbinformationen zwischen "Ur-Zellen" horizontal wild hin und her gestauscht wurden. Dabei stützt er sich vor allem auf Daten aus dem biochemischen und genetischen Vergleich von Translation, Transkription und Replikation verschiedener rezenter Zellarten.

Als Folge skizziert Woese eine frühe Welt, in der RNA einziger Informationsträger ist und einfache molekulare Organisationsformen untereinander regen Austausch durch horizontalen Gentransfer (HGT) haben. Nicht nur Moleküle oder "Gene" wandern, sondern ganze Strukturen können wie Module ausgetauscht werden. HGT ist der Motor, um gut funktionierende Neuerungen in einem universellen Genpool zu verbreiten und die Ursuppe quasi als Gesamtheit weiter zu entwickeln. Diese Welt kennt noch keine Arten, und "lebende" Strukturen entstehen als sogenannte supramolekulare Aggregate (SMA). Polypeptide sind nur in der Form vorhanden, wie sie ohne Translations-Mechanismen entstehen können.

Dann werden RNA und Peptide miteinander verknüpft. Erste, sehr fehlerhafte RNA-Translationsformen können kleine Proteine herstellen, die ihrerseits sehr simpel sind und unpräzise arbeiten. Verschiedene Zelldesigns oder SMAs entstehen je nach unterschiedlichen Umwelteinflüssen.

Und nun kommt die entscheidende Wende: Eine effektive Translation etabliert sich und Proteine erscheinen vermehrt auf der Bildfläche. Die Proteine übernehmen immer mehr strukturelle Aufgaben und verbessern wiederum den Translationsmechanismus. Die verschiedenen Zelldesigns entwickeln sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausgangsbasis immer weiter auseinander. Diese Tendenz jedoch behindert wiederum den horizontalen Genaustausch. Je komplexer und in sich vernetzter die Komponenten eines Zelldesigns werden, desto schwieriger wird ein erfolgreicher Austausch ganzer Komponenten.

Mehr und mehr entwickeln sich auf diese Weise immer abgeschlossenere Aggregate. Irgendwann erreicht ein Zelldesign einen Grad an Komplexität, bei dem man von einer eigenen Art sprechen kann. Der entscheidende Schritt ist getan, die von Woese postulierte Darwinsche Schwelle ist überschritten. Erst jetzt wird graduelle Evolution nach der Darwinschen Theorie möglich.

Woese vermutet, dass es zunächst den Vorläufern der heutigen Bakterien so erging. Erst später sprangen die Ahnen der Archäen über die Schwelle. Ob die Vorläufer der Eukaryontenzelle sich dann aus letzteren entwickelten, oder ob sie als eigene Urform die Darwinsche Schwelle passierte, hält Woese für noch nicht geklärt. Für ihn scheint es jedoch sehr wahrscheinlich, dass auch viele andere Zelltypen die Darwinsche Schwelle übertraten, inzwischen jedoch ausgestorben sind.

Die Darwinsche Schwelle nach Woese markiert folglich den Beginn des phylogenetischen Stammbaums. Darwin wird nicht widerlegt, sondern seine Theorie bekommt einen neuen Sockel. Entgegen Darwins Annahmen geht Woese jedoch davon aus, dass nicht nur eine Zell-Urform die Basis der heute lebenden Arten ist, sondern drei. Zusätzlich betont er, dass diese Urformen nicht den heute bekannten modernen Zelltypen entsprechen, sondern sich auch noch entlang des phylogenetischen Stammes weiter zu diesen entwickelten. Erst viel später entstand etwa die moderne Eukaryontenzelle durch Endosymbiose. Auch die auf DNA basierende Transkription und Replikation scheinen sich erst spät manifestiert zu haben.


Aus brodelndem Gemisch

So weit, den phylogenetischen Stammbaum neu zu zeichnen und ihm tatsächlich mehrere Stämme zu geben, geht Woese in seiner Veröffentlichung allerdings nicht. Der Baum "steht" für ihn jedoch direkt in einem brodelndem Gemisch "lebender" molekularer Aggregate, für die HGT keine Ausnahme, sondern die Regel zur Weiterentwicklung war.



Letzte Änderungen: 20.10.2004