Editorial

Y-Chromosom

von Brynja Adam (Laborjournal-Ausgabe 07, 2003)


Ja, es stimmt schon, der einsame Wolf unter den Chromosomen ist winzig, und im Vergleich zum X hat es nur sehr wenige Gene. Aber ganz so degeneriert und fast funktionslos, wie man dachte, ist das Y dann doch nicht. Diese für viele vielleicht erleichternde Erkenntnis steckt in der jetzt veröffentlichten Sequenzanalyse des "Männerchromosoms". Die Studie präsentiert einige erstaunliche Eigenschaften des Winzlings, die überdies auch Einblicke in die Evolution der Sex-Chromosomen geben (Nature 423, S.825 und S.873).


Das ganze Genom?...Jetzt schon!

Auch wenn das humane Genom als sequenziert verkündet wurde – große Teile des Y-Chromosoms lagen schon vorher auf einem anderen "To do"-Stapel mit der Aufschrift "Für irgendwann später". Zu schwierig war es, mit den verwendeten Methoden Ordnung in die vielen fast identischen Sequenzen zu bringen. Forscher des Whitehead Institute for Biomedical Research in Cambridge/USA sowie der Washington University School of Medicine in St. Louis haben nun die Mühsal auf sich genommen und sich mit Hilfe hochredundanter Klon-Bibliotheken des Y-Chromosoms eines einzigen Mannes durch die scheinbare Ödnis gewühlt. Und man kann sagen: es hat sich gelohnt. Denn die Sequenz zeigt ganz neue Aspekte der spannenden und wechselvollen Geschichte einer ganzen Chromosomen-Evolution voller Inversionen, Einwanderungen, Unterdrückungen und Spezialisierungen.

Angefangen hat alles vor etwa 300 Millionen Jahren, als ein ursprünglich homologes Autosomen-Paar anfing sich auseinander zu entwickeln. In der folgenden Zeit wurde das Y zum Eigenbrötler, der dynamische Wandlungen und Schrumpfungen durchmachte, während das X blieb wie es war. Anhand von Sequenzvergleichen zwischen X und Y kann die Geschichte der Auseinanderentwicklung jetzt nachvollzogen werden. Ein Gen gab wohl den Startschuss für diese Divergenz: das SRY-Gen (sex-determining region Y), das noch immer den Mann zum Manne macht, indem es während der Embryogenese die Hodenentwicklung steuert. Dieses Gen war anfangs der einzige Unterschied zwischen den Sex-Chromosomen. Zu dieser Zeit legten sich die beiden bei der Meiose noch genauso innig aneinander wie die anderen homologen Chromosomen und betrieben fröhliches Crossing-Over über ihre gesamte Länge.


Mit SRY fing alles an

Doch damit war bald Schluss. Durch allerlei Inversionen unterschied sich das Y-Chromosom bald so sehr von seinem ehemaligen Partner, dass es mit der homologen Rekombination nicht mehr so recht klappen wollte. Heute paart und rekombiniert sich das Y-Chromosom nur noch an seinen äußersten Spitzen mit dem X-Chromosom. Anders als bei den anderen Chromosomen werden kaputtgegangene Gene so nicht mehr vom Rekombinationspartner ersetzt – und werden dadurch zu Pseudogenen oder gehen ganz verloren. In denjenigen Teilen des Y-Chromosoms, die noch vom ursprünglichen Autosomenpaar stammen und die in der Studie als X-degenerierte Sequenzen bezeichnet werden, überlebten daher nur einige wenige Relikte der gemeinsamen Zeit: Lediglich 16 der etwa 3.000 proteinkodierenden Gene des X-Chromosoms haben noch einen homologen Partner auf dem Y-Chromosom.


Fast perfekte Palindrome

Ins Muster dieses Verfalls passt auch eine zweite Sequenzklasse: die X-transposed Sequences. Sie sind das Produkt einer ganz jungen, massiven Transposition vom X zum Y. Die entsprechenden Sequenzen sind noch zu 99% identisch mit den homologen Bereichen auf dem X, besitzen jedoch nur noch ganze zwei funktionierende Gene.

Aber es gibt nicht nur Verlust und Degeneration in der Geschichte des Y-Chromosoms. Das zeigt eine dritte Sequenzklasse: die amplikonischen Sequenzen. Sie sind Zeugen eines entgegenlaufenden Trends: nämlich der Bündelung hodenspezifischer Gene auf dem Y-Chromosom sowie ihrer Organisation in Y-spezifischen Repeat-Units, den Amplicons. Auf das Y gelangten die Gene durch verschiedene Schicksalsschläge der molekularen Evolution wie Transposition und Retrotransposition, wurden dann vielfältig amplifiziert und invertiert. Resultat waren identische, aber entgegengesetzt orientierte Sequenzen, wobei diese Inverted Repeats und Palindrome eine ganz erstaunliche Symmetrie aufweisen. Am spektakulärsten ist dabei das Palindrom P1, das ganze 2,9 Mb lang ist und mit einer 99,97-prozentigen Sequenz-Ähnlichkeit zwischen beiden Armen aufwarten kann.


Rekombination innerhalb des Y?

Aber wie können diese Sequenzen untereinander so ähnlich sein und vor allem bleiben? Die Forscher entwickelten dazu eine sich mittlerweile erhärtende Hypothese, die gleichzeitig erklärt wie sich die dortigen Gene gegen den Trend auf dem Y so gut entwickeln konnten. Demnach entstand auf dem Y-Chromosom eine ganz besondere Möglichkeit Gene zu stabilisieren ohne einen meiotischen Rekombinationspartner zu benötigen: die Genkonversion innerhalb des Chromosoms. Die normale X-Y-Rekombination, bei der ja reziproke Stücke zwischen homologen Chromosomen getauscht werden, wird hier ersetzt durch eine nicht-reziproke Y-Y-Rekombination, bei der ein Arm des Palindroms die Sequenz des anderen Arms verändert. Mit diesem Mechanismus spezialisierte sich das Y-Chromosom immer mehr zum Spermien- und Männermacher, während ihm die allgemeineren Aufgaben verloren gingen.

Welcher Trend allerdings der stärkere sein wird: die Degeneration oder die Spezialisierung wird sich erst in den nächsten paar Millionen Jahren zeigen.



Letzte Änderungen: 20.10.2004