Editorial

Ghrelin

von Julia Offe (Laborjournal-Ausgabe 4, 2010)


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Fotolia/Oleg Kozlov; Montage: LW

„Ghre“ ist der indoeuropäische Wortstamm des englischen Verbs „to grow“. Die Entdecker des Ghrelins hätten sich keinen besseren Namen ausdenken können, als sie das Peptid Ende der 1990er Jahre erstmals beschrieben, obwohl sie damals vermutlich nicht ahnten, dass sie einen gleich in mehrfacher Hinsicht treffenden Namen gewählt hatten.

Aber der Reihe nach.

Warum wachsen wir? Zum einen, weil die Hypophyse Wachstumshormone (GH) ausschüttet. Dadurch werden wir groß.

Masayasu Kojima et al. beschrieben 1999 in Nature die Wirkung des 28-Aminosäuren-Peptids Ghrelin auf das Ausschütten von GH (Nature 1999, 402(6762):656-60). Sie konnten zeigen, dass es vor allem vom Magen gebildet wird und die Ausschüttung von GH in der Hypophyse erhöht. Ghrelin war der gesuchte Ligand zum bereits bekannten growth hormone secretagogue receptor. Eine zweiter Weg der GH-Regulation war gefunden, der nicht über das growth hormone releasing hormone (GHRH) im Hypothalamus reguliert wurde.

Damit war die Geschichte aber noch nicht zu Ende.

Wenn wir schon groß sind, können wir nämlich auch noch dick werden.

Kurz darauf fanden Matthias Tschöp et al. heraus, dass Ghrelin auch dabei eine Rolle spielt. (Nature 2000, 407(6806):908-13). So steigt der Ghrelinspiegel im Blut von Ratten bei Hunger an und sinkt beim Fressen oder beim Trinken von Zuckerwasser wieder ab, nicht jedoch beim Trinken von reinem Wasser. Regelmäßige subkutane Gabe des Peptids führte bei Nagern zu Gewichtszunahme: und das, obwohl sie nicht mehr fraßen als vorher! Sie drosselten vielmehr ihre Fettverbrennung. Wenn die Forscher das Ghrelin hingegen direkt in ein Hirnventrikel spritzten, fraßen die Ratten mehr und nahmen deshalb an Gewicht zu. Der Stoff spielt also auch eine Rolle in der Regulation der Energieeinnahmen und -ausgaben eines Tieres.


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Achtung, fertig – Futtern!

Inzwischen ist der Zusammenhang von Ghrelinspiegel und Hunger auch für den Menschen bestätigt. Versuchspersonen, die einfach nach Hungergefühl (und nicht nach Uhrzeit oder den Essensgepflogenheiten ihrer Mitmenschen) essen sollten, begannen zu essen, sobald der Ghrelinspiegel einen bestimmten Schwellenwert überstieg.

Was lag da näher, als die Ghrelinverhältnisse bei Menschen zu untersuchen, deren Essverhalten gestört ist. Das Prader-Willi-Syndrom zum Beispiel ist eine angeborene Krankheit, bei der ein Stück des väterlichen Chromosoms 15 fehlt, oder sogar beide Chromosomen 15 von der Mutter stammen. Eins der zentralen Symptome ist der buchstäblich unstillbare Hunger der Betroffenen. Die Folge: massives Übergewicht sowie rasende Wutanfälle, wenn Eltern oder Therapeuten den Patienten das Essen rationieren wollen. Wen wundert’s, schließlich ist ihr Ghrelinspiegel um das Drei- bis Vierfache erhöht.

SNPs im Ghrelin-Gen sind außerdem mit verschiedenen Essstörungen assoziiert, vor allem bei denen, die sich durch Phasen unkontrollierten Essens (binge eating) auszeichnen. Damit ist die Geschichte aber immer noch nicht zu Ende.

Denn wenn wir schon groß und dick sind, können wir auch noch saufen.

Den Einfluss von Ghrelin auf den Alkoholkonsum entdeckte kürzlich eine schwedische Arbeitsgruppe. Elisabet Jerlhag et al. berichten in PNAS (2009, 106(27): 11318-23), dass Mäuse, die Ghrelin ins Gehirn gepritzt bekamen und die zwischen Wasser und einem Wasser-Alkohol-Gemisch wählen konnten, mehr Alkohol tranken als die Vergleichstiere. Und wenn die Forscher noch weiter gingen und Ghrelin direkt in die Belohnungszentren des Gehirns spritzten, stieg der Alkoholkonsum der Tiere sogar um fast fünfzig Prozent. Weil das darauf hinweist, dass das Wohlgefühl nach einem Drink über Ghrelin vermittelt wird, unternahmen die Schweden noch das entgegengesetzte Experiment. Und siehe da: wenn die Ghrelinrezeptoren der Mäuse ausgeknockt oder blockiert wurden, machte ihnen das Saufen plötzlich keinen Spaß mehr. Die Tiere tranken jetzt weniger Alkohol als ihre placebobehandelten Verwandten. Und weil einige Menschen zu klein bleiben oder zu groß werden, etliche zu viel Alkohol trinken und viele zu dünn oder zu dick sind und darüber meistens weder die Betroffenen noch ihre Krankenkassen erfreut sind, wird an Ghrelin ständig weiter geforscht. Man darf also gespannt sein, welche Wirkungen noch entdeckt werden.



Letzte Änderungen: 26.04.2010