Editorial

Plastik-Antikörper

von Thorsten Lieke (Laborjournal-Ausgabe 11, 2010)


Biene

... der erste war gegen das
Bienengift Melittin.
Foto: annelilocke/photocase

Als Emil von Behring Anfang des 20. Jahrhunderts Ziegen mit Corynebacterium diphtheriae infizierte, führte er Großes im Schilde: Er wollte der Diphterie, die damals bei Kindern zu den häufigsten Todesursachen zählte, ihren Schrecken nehmen. Nach der Infektion bildeten die Ziegen Antikörper, die Behring im Ziegen-Serum Diphterie-Patienten verabreichte. Die Krankheit wurde durch diese passive Impfung heilbar, Emil Behring erhielt 1901 den ersten Nobelpreis für Medizin und wurde in den Adelsstand erhoben.


Natürliche Antikörper ...

Die Antikörper (Immunglobuline) der Wirbeltiere sind an ihrer charakteristischen Y-Form zu erkennen. An den Spitzen der beiden Arme des Y befindet sich die Antigenbindungsstelle, die konstanten Domänen an der Basis des Y vermitteln die Funktion der Antikörper.

Durch (nicht-kovalente) Bindung des Antikörpers an sein Antigen wird dieses für Fresszellen oder Lymphozyten markiert, die Rezeptoren für den konstanten Teil der Antikörper haben. Die Antikörper-Antigen-Komplexe werden phagozytiert oder die Fremdstoffe über das Komplementsystem lysiert.

Das System ist gut, hat aber einen Haken: Die Quelle der Antikörper sind B-Zellen, die die Produktion der Antikörper erst anschmeißen, nachdem sie von anderen Zellen des Immunsystems aktiviert wurden. Bis zur Antikörper-Freisetzung vergehen so einige Tage, die etwa Bakterien nutzen, um sich massenhaft zu vermehren. Im Fall der Diphterie reicht diese Zeitspanne aus, um die Krankheit unkontrollierbar zu machen.

Die Heilung durch Antikörper (auch als passive Vakzinierung bezeichnet), die in anderen Organismen produziert wurden, ist zwar erfreulich wirksam, aber extrem zeitaufwendig und kostenintensiv. Es ist daher ein lang gehegter Wunsch, die Eigenschaft der natürlichen Antikörper durch künstlich hergestellte Moleküle zu imitieren. Diese könnten in der Diagnostik eingesetzt werden wie auch als Therapeutika oder als Antidote gegen Toxine und Viren.


... Künstliche Counterparts

Kenneth Shea und Kollegen von der University of California ist in Koproduktion mit japanischen Wissenschaftlern die Herstellung solcher synthetic organic polymer nanoparticles (NPs) aus Acrylamid-Derivaten gelungen. Diese Plastik-Antikörper sind stabil und provozieren nach ersten Untersuchungen in Mäusen keinerlei Reaktion des Immunsystems. Das Besondere an der Methode von Shea et al. ist, dass die Polymerisation in Anwesenheit der Zielmoleküle stattfindet MIP (molecular imprinting) – in diesem Fall von Melittin, einem amphipathischen Polypeptid aus 26 Aminosäuren und Hauptbestandteil von Bienengift, das die Zellmembran von roten Blutkörperchen lysiert.

Die Chemiker copolymerisierten verschiedene Mischungen von hydrophilem Acrylamid und Bisacrylamid als Grundgerüst für das Polymer und setzten dem Cocktail hydrophobes Butylacrylamid, positiv-geladenes Aminopropyl-methacrylamid und negativ-geladene Acrylsäure hinzu. Nach Aushärtung der Nanopartikel, die am Ende eine Schichtdicke von einem Fünfzigtausendstel eines menschlichen Haares besitzen, werden die Melittin-Moleküle ausgewaschen und zurück bleiben die Abdrücke, in die sich erneut Melittin einlagern kann. Genau das macht die Nanopartikel zu Antikörper-ähnlichen Konstrukten (Small 2009, 9:1562-68).


In vitro-Auslese

Die resultierenden Polymere überprüften Shea et al. auf ihre Fähigkeit, die hämolytische Funktion von Melittin zu unterbinden, indem sie Polymere und Melittin in eine Kultur von Erythrozyten gaben. Färbte sich der Überstand rot vom Hämoglobin, taugten die Polymere nicht zur Neutralisierung.

Um die Wirksamkeit der Plastikantikörper auch in vivo zu testen, verabreichten Shea und Kollegen Mäusen eine tödliche Dosis Melittin. Durch die gleichzeitige Injektion der Nanopartikel überlebten 60 Prozent der Mäuse die Melittin-Injektion, da diese das Toxin innerhalb kürzester Zeit binden und damit die Ausbreitung im Organismus verhindern.

Bei natürlichen Antikörpern wird die Beseitigung der gebundenen Antigene durch die konstante Region (Fc) und entsprechenden Rezeptoren auf Fresszellen vermittelt. Die Fc aber fehlen bei den künstlichen Antikörpern. Daher werden die Toxin-beladenen Nanopartikel in der Leber angereichert.


In vivo-Überprüfung

Doch bevor man sich sorgenvoll die Frage stellen kann „Wieviel Plastik verträgt die Leber?“, gibt Kenneth Shea Entwarnung. Das Immunsystem arbeitet mit und in der Tat mampfen die Fresszellen auch den künstlichen Kram (J Am Chem Soc 2010, 132:6644-5). Doch hier endet das Wissen über den Verbleib der Nanopartikel. Man kennt den Werdegang von phagozytierten Proteinen, die quasi durch den Wolf gedreht und fast gänzlich verdaut werden, bis nur noch kleine Bruchstücke übrig sind.

Die künstlichen Antikörper jedoch scheinen nicht biologisch abbaubar zu sein – sie überstehen längere Zeit in Proteasereicher Umgebung wie Magen, Darm oder Mukosa, ohne verdaut zu werden. Zu wünschen wäre es, denn dann stünde der einfachen aber effizienten Beseitigung von schädlichen Molekülen nichts mehr im Wege.

Durch Erweiterung der ursprünglichen Nanopartikel-Bibliothek um ein größeres Angebot an funktionellen Monomeren hoffen die Forscher, in Zukunft auch Plastik-Antikörper gegen komplexere Biomoleküle, wie Proteintoxine, synthetisieren zu können.



Letzte Änderungen: 15.11.2010