Editorial

Synonyme Mutation

von Juliet Merz (Laborjournal-Ausgabe 5, 2021)


(10.05.2021) Der Austausch einer einzigen Base kann in einer Zelle und sogar im ganzen Organismus ordentlich Chaos verursachen – muss es aber nicht. Denn es gibt auch Genmutationen, die überhaupt keinen Einfluss auf den Phänotyp haben und als neutrale Mutationen bezeichnet werden.

Sie treten beispielsweise in nicht-codierenden Sequenzen des Erbguts auf, können aber auch in den nicht-translatierten Regionen oder codierenden Sequenzen der Exons auftauchen. Wenn ein solcher Genabschnitt mutiert und dieses Ereignis keinen Effekt auf den Organismus hat, spricht man von einer stillen beziehungsweise stummen Mutation. Das kann passieren, wenn sich durch eine Punktmutation zwar eine Base eines Codon-Tripletts verändert, die daraufhin eingebaute Aminosäure aber die gleiche bleibt. Dieses Phänomen tritt häufig bei Mutationen an der dritten Triplett-Position auf.

Harmlose Mutationen

Es kann aber auch dazu kommen, dass ein Ribosom durch eine Mutation tatsächlich eine andere Aminosäure in das gerade entstehende Protein einbaut. Hat dieser Austausch allerdings keinen Einfluss auf die Funktion des Proteins – beispielsweise, weil bei einem Enzym das aktive Zentrum unberührt bleibt – spricht man ebenfalls von einer stummen Mutation.

Mutationen, welche zwar die DNA-Sequenz verändern, nicht aber die codierte Aminosäure, werden auch synonyme Mutationen genannt. Von Biologen und Medizinern werden diese häufig als still abgetan – ein grober Irrtum, wie sich in den vergangenen Jahren herausgestellt hat.

Der US-amerikanische Biochemiker Michael Gottesman von den National Institutes of Health hatte 2007 eine Mutation im Multidrug-Resistance-1(MDR1)-Gen genauer unter die Lupe genommen (Science 315: 525). Die Sequenz codiert MDR1, ein Glykoprotein und ATP-abhängiger Membrantransporter, der toxische Stoffe aus der Zelle pumpt. Gottesman und Co. zeigten, dass eine vermeintlich stille Mutation im MDR1-Gen dafür sorgte, dass das Glykoprotein anders auf Wirkstoffe und Inhibitoren reagierte. Sie vermuteten, dass das ausgetauschte Codon die co-translationale Faltung des gerade entstehenden Proteins zeitlich beeinflusst sowie den korrekten Einbau von MDR1 in die Membran verhindert, was letztlich auch die Struktur des Proteins verändert sowie dessen Interaktionsstelle mit Inhibitoren.
Erstaunlich früh verstorben

Weil synonyme Mutationen nicht die Aminosäure-Sequenz eines Proteins ändern, werden sie besonders in der Krebsforschung häufig übersehen und im Sinne einer stillen Mutation als ungefährlich abgestempelt.

Diesen Fehler machten Samuel Peña-Llopis vom Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung am Universitätsklinikum Essen und Kollegen indessen nicht. Sie konnten dieses Jahr zeigen, dass ignorierte vermeintlich stille Mutationen lebensbedrohliche Folgen haben können. In ihrer in iScience erschienenen Studie berichten sie von einer Patientin mit klarzelligem Nierenkrebs, auf den sie in der Tumorgen-Datenbank „The Cancer Genome Atlas“ gestoßen waren (24: 102173). Ein Mutationsprofil ihres Tumorerbguts hatte der Patientin eine eher günstige Prognose gestellt: Sie sollte noch etwa 117 Monate weiterleben können. Allerdings verstarb die 73-jährige Frau schon 56 Monate nach ihrer Krebsdiagnose.

Verwundert warf die Gruppe um Peña-Llopis einen genaueren Blick in die Tumorgen-Daten und entdeckte eine Mutation in dem Tumor-Suppressor BAP-1. Die Prognose für Krebspatienten mit Mutationen in BAP-1, welche die Suppressorfunktion des Proteins beeinträchtigen, sind äußerst düster. Bei der Patientin hatte sich im BAP-1-Gen zwar auch eine Mutation eingeschlichen, diese hatte die Aminosäuren-Abfolge des Proteins aber überhaupt nicht verändert: Egal ob mit oder ohne Mutation, das Codon-Triplett signalisierte den Einbau von Glycin.

Der Ort der synonymen Mutation stellte schließlich die Ursache des Problems dar. Denn der Basen-Austausch hatte in der Nähe der Akzeptor-Spleißstelle von Exon 11 stattgefunden. Das Ergebnis: Beim Zusammenfügen der einzelnen Exons wurde das Exon 11 ausgelassen. Das verkürzte Protein beziehungsweise schon die mRNA sind der Zelle ein Dorn im Auge, wodurch sie schnell deren Abbau einleitet. „Der nahezu vollständige Ausfall von BAP-1 als Konsequenz dieser vermeintlich stummen Mutation führt zu höherer Aggressivität des Tumors und dadurch zu einer massiv verkürzten Überlebenszeit des Patienten“, fasst Peña-Llopis in der dazugehörigen Pressemitteilung zusammen. Das Forscherteam plädiert dafür, den vermeintlich stummen Mutationen bei Genomanalysen mehr Beachtung zu schenken.

Diesem Vorhaben dürften Wissenschaftler wie Sven Diederichs vom Universitätsklinikum Freiburg und Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg zustimmen. Vor zwei Jahren hatte der studierte Biochemiker mit seinem Team aus weltweiten Krebsgenomstudien knapp 660.000 synonyme Mutationen zusammengestellt und charakterisiert (Nat. Commun. 10: 2569). Die Ergebnisse speiste die Gruppe in eine extra dafür entwickelte Datenbank namens SynMICdb ein.

Falsch gefaltet

Die Notwendigkeit ihres Vorhabens unterstrich die Gruppe mit dem Beispiel des Onkogens KRAS, eines der am häufigsten mutierten Onkogene und ein Faktor, der besonders bei Bauchspeicheldrüsen-, Dickdarm- und Lungenkrebs eine Rolle spielt. Sie untersuchten die Auswirkungen einer synonymen Punktmutation an Position 30. Es zeigte sich, dass sich die Sekundärstruktur der mRNA durch die ausgetauschte Base verändert hatte. In einem Interview mit Innovations Report vergleicht Diederichs die mRNA mit einem Stadtplan. Je nachdem, wie dieser gefaltet sei, könne man ihn besser oder schlechter lesen, was letztlich auch darüber entscheide, wie schnell man ans Ziel kommt. „Der Plan ist der gleiche, aber die Faltung hat Folgen“, erklärt Diederichs.