Editorial

Alarmone

von Juliet Merz (Laborjournal-Ausgabe 11, 2021)


(10.11.2021) Egal ob Hunger oder extreme Umweltbedingungen – wenn ein Organismus unter immensem Stress steht, fährt er besser das Alltags-Programm zurück und wechselt in den Alarmmodus, um zu überleben. Dafür zuständig sind sogenannte Alarmone. Ein besonders bekanntes Alarmon ist Guanosin-Tetraphosphat (ppGpp), ein Nukleotid, das in Bakterien eine wichtige Rolle bei der sogenannten Stringent Response spielt. Sie ist eine der wichtigsten Reaktionen auf Hunger, wenn den Mikroben die Aminosäuren oder andere Nährstoffe ausgehen, etwa Glucose, Fettsäuren oder Eisen. Aber auch extreme pH-Werte, ein hoher Salzgehalt oder Antibiotika können die Menge an Alarmonen in der bakteriellen Zelle nach oben treiben.

ppGpp oder auch sein Verwandter pppGpp (Guanosin-Pentaphosphat) modulieren – hauptsächlich im Sinne einer Inhibition – viele zelluläre Prozesse. Der Sinn dahinter: Fehlen den Mikroben Nährstoffe, ist das Laufen auf Sparflamme die klügste Wahl.

Eine Zielstruktur der beiden Alarmone sind beispielsweise GTPasen, da sie den Vorläufermolekülen GDP beziehungsweise GTP stark ähneln. Als Resultat binden die Alarmone mit vergleichbarer Affinität und kompetitiv zu GDP und GTP verschiedenste GTPasen. Dabei inhibieren sie zum Beispiel die Biogenese von Ribosomen, die Translation, die Replikation von DNA sowie Enzyme des Nukleotidmetabolismus, wodurch die zelluläre GTP-Konzentration sinkt.

Alarmone spielen demnach eine bedeutende Rolle bei der Adaptation von Mikroorganismen an bestimmte Stressbedingungen und können wahrscheinlich auch den Verlauf von Infektionen bestimmen. Könnten sie damit ein neuer Ansatz für antibakterielle Wirkstoffe sein? Dafür muss zuerst einmal geklärt werden, ob die Guanosin-Alarmone auch im Menschen vorkommen.

Mittlerweile haben sich schon viele Forschungsteams auf die Suche nach ppGpp in vielzelligen Tieren (Metazoa) begeben. Der erste Versuch, ppGpp in eukaryotischen Zellen nachzuweisen, erfolgte 1970 mit HeLa-Zellen (Original: Biochim. Biophys. Acta 199: 537-40; Review: Microbiol. Rev. 43: 27-41). Der US-amerikanische Biochemiker Mark Smulson von den Georgetown University Schools of Medicine and Dentistry in Washington konnte jedoch in den entarteten Epithelzellen keinerlei ppGpp-Spiegel detektieren und das, obwohl er sie unter starken Stress setzte, indem er sie aushungerte.

Fünf Jahre später wies der Molekulargenetiker Hans Jürgen Rhaese von der Goethe-Universität in Frankfurt schließlich die hyper-phosphorylierten Nukleotide in Eierstock- und Nierenzellen von Hamstern nach (FEBS Lett. 53: 2-7) – allerdings konnten die Ergebnisse nie reproduziert werden.

Streit um Vorkommen

Und auch weitere Versuche mit Chromatographen und Spektrometern konnten Metazoen keine ppGpp-Signale entlocken.

Vergangenes Jahr jedoch publizierten Shinji Masuda und Kollegen vom Tokyo Institute of Technology in Japan ein Paper, welches das Gegenteil behauptet. In Experimenten mit Zellen von Mensch und Taufliege konnten sie ppGpp nachweisen und sogar zeigen, dass der Alarmon-Stoffwechsel in Metazoen konserviert zu sein scheint (Commun. Biol. 3: 671).

Der Biochemiker Gert Bange von der Universität in Marburg forscht seit vielen Jahren an den Alarmonen und bleibt auf Nachfrage von Laborjournal skeptisch: „Seit vielen Jahren versuchen Forschungsteams ppGpp in Hefe oder menschlichen Zellen nachzuweisen – und bislang ist es noch niemandem gelungen. Auch ist dort bisher keine einzige (p)ppGpp-Synthetase bekannt. Enzyme, welche Homologien zu den (p)ppGpp-Synthetasen in Bakterien und Chloroplasten zeigen, gibt es im Menschen nicht. Zukünftige Studien müssen die Ergebnisse von Masuda et al. erst einmal bestätigen und zeigen, dass es sich dabei nicht um experimentelle Artefakte handelt. Ich würde mich natürlich freuen, wenn es (p)ppGpp im Menschen gäbe. “

Aber die hyper-phosphorylierten Nukleotide (p)ppGpp sind nicht die einzigen Alarmone. Auch Dinukleosid-Polyphosphate (NpnNs) gelten gemeinhin als Alarmone, weil ihre Konzentration signifikant unter zellulärem Stress steigt. Entdeckt wurden sie in Bakterien und eukaryotischen Zellen in den 1960er-Jahren von einem US-amerikanischen Forscher-Duo (J. Biol. Chem. 238: 344-8). Die am häufigsten untersuchten Vertreter dieser Gruppe sind das Diadenosin-Triphosphat (Ap3A) und -Tetraphosphat (Ap4A), deren Spiegel zum Beispiel bei extremen pH-Werten und Temperaturen oder oxidativem Stress steigen.

Ein Forschungsteam um den Konstanzer Chemiker Andreas Marx beschrieb kürzlich, wo in der Zelle die beiden Adenosin-basierten Alarmone überall ihre Finger im Spiel haben (Nat. Commun. 12: 5808). Sie identifizierten insgesamt 78 proteinogene Spielkameraden in humanen embryonalen Nieren-Zellen, die potenziell mit den beiden Alarmonen interagieren. Die meisten der identifizierten Proteine scheinen mit unterschiedlichen Stoffwechselprozessen in Verbindung zu stehen, darunter die der Carbonsäure, Nukleotide und Kohlenhydrate. Ap3A spielt dabei vermutlich eine Rolle bei zellulären Reaktionen auf chemische Stimuli oder sich ändernde Sauerstoffspiegel, Ap4A hingegen interagiert vor allem mit Proteinen, die unter anderem an der Genexpression, Translation und dem Ubiquitin-System beteiligt sind.

Ein weiteres Puzzle-Teil enthüllt sich im Zusammenhang mit weiteren Studien US-amerikanischer und tschechischer Kollegen. Sie beobachteten, dass Np4N-Alarmone als Vorläufer für RNA-Kappen dienen oder sogar selbst RNA-Kappen sein können (PNAS 117: 4445-6; Nat. Commun. 11: 1052). Marx et al. hingegen entdeckten, dass Ap3A und Ap4A mit einem Enzym (DcpS) interagieren, das für den letzten Schritt des mRNA-Abbaus verantwortlich ist, indem es die Schutz-Kappe entfernt.Laut den Ergebnissen der Konstanzer können die beiden Alarmone als alternative Substrate für DcpS fungieren, was die Spaltung von Cap-Analoga verlangsamt. Bedeutet: ApnAs scheinen die RNA-Stabilität, den -Metabolismus und/oder den -Transport zu regulieren.