Editorial

Hyperalgesie

von Sabine Strecker (Laborjournal-Ausgabe 05, 1998)


"Schmerz laß nach!" dürfte der dringlichste Wunsch mancher Patienten sein, die unter starken Schmerzen leiden. Das Reizleitungssystem im menschlichen Körper erfüllt diesen Wunsch jedoch nicht, im Gegenteil: Statt zu adaptieren und die Schmerzen somit erträglicher zu machen, setzt er seine Reaktionsschwelle nach starken Schmerzreizen sogar noch herab. Diese übersteigerte Schmerzempfindlichkeit wird als Hyperalgesie bezeichnet und stellt sich auch bei chronischen Schmerzen ein, etwa nach Krebserkrankungen oder Verbrennungen, oder als der berüchtigte "Phantomschmerz". Bislang wird solcher Schmerz hauptsächlich mit Morphin behandelt - wirksam zwar, wegen der Suchtgefahr jedoch umstritten.

Gleich drei Nature-Artikel befaßten sich jüngst mit den molekularen Aspekten von Schmerzempfindung und Hyperalgesie. Obwohl die Schmerzen in der KörperPeripherie ausgelöst und empfunden werden, ist die eigentliche Empfindlichkeitssteigerung ein zentralnervöses Ereignis: Teile des schmerzverarbeitenden Systems im Rückenmark oder Gehirn werden "gebahnt" und reagieren somit empfindlicher auf Folgereize. Vor einigen Jahren entdeckte man die wichtige Rolle des Neuropeptids Nociceptin bei der Entstehung der Hyperalgesie im zentralen Nervensystem. Wird das Protein in den Liquorraum des Rückenmarks gespritzt, sinkt die Schmerzschwelle deutlich ab.

Ein japanisches Team entdeckte nun einen heimlichen "Zwilling" des Nociceptins: Nocistatin. Es wird aus demselben Vorläufermolekül (Präpronociceptin) gebildet wie Nociceptin und blockiert antagonistisch dessen empfindlichkeitssteigernde Wirkung. Eine durch Prostaglandin E2 ausgelöste Hyperalgesie unterdrückte das Nocistatin ebenso effektiv. Wie Nocistatin wirkt, ist indes noch unklar. Sicher ist nur, daß es nicht an den Nociceptin-Rezeptor bindet, sondern an einen eigenen, bislang unbekannten Rezeptor.

Mit Substanz P einem anderen, schon lange bekannten Transmitter im schmerzleitenden System, haben sich zwei Gruppen in Cambridge und den USA beschäftigt. Substanz P wird unter anderem von schmerzleitenden Fasern im Rückenmark freigesetzt und führt dort zu einer zentralen Hyperalgesie. Dieses Bild von Substanz P als zentralem Schmerzübermittler und -regulator konnten die beiden Teams an Knock-out Mäusen prinzipiell bestätigen. Jedoch zeigte das alte Peptid auch neue Seiten. Bei Mäusen, die den Substanz P-Rezeptor NK-1 nicht bilden konnten, unterblieb der "wind-up" von spinalen Reflexen, ein Modell für die Hyperalgesie in Tierversuchen. Zugleich blieb auch die kurzfristige Schmerzunempfindlichkeit (Analgesie) aus, wie sie bei normalen Mäusen etwa nach einem Bad in kaltem Wasser oder anderen Streßsituationen auftritt. Zudem waren die Mutanten wesentlich weniger aggressiv gegenüber Artgenossen, die in ihr Territorium eindrangen. Substanz P scheint demnach die Reaktion der Tiere auf unterschiedliche Streßfaktoren zu steuern. Zugleich relativierten die Versuche aber auch die Rolle von Substanz P als Schmerzüberträger. Denn die Mäuse reagierten zwar schwächer auf mäßige bis starke Schmerzreize; die Antwort auf schwachen Schmerz blieb jedoch voll erhalten. Ähnlich reagierten Knock-out Mäuse, die keine Substanz P bilden konnten.

Offenbar entstehen Schmerz und Schmerzüberempfindlichkeit also nicht nur auf einem Weg. Vielmehr leiten verschiedene Systeme unterschiedlich starke Schmerzeindrücke. Dies könnte auch der Grund sein, warum bislang NK-Antagonisten bei der Behandlung chronischer Schmerzen enttäuschten. Nach den neuen Erkenntnissen könnten sie allerdings in Kombination mit Morphin die Schmerztherapie effektiver und verträglicher machen.



Letzte Änderungen: 19.10.2004