Editorial

Schreib- & Leseschwäche

Erlebnisse einer TA (75)

Annette Tietz


Die TA

In Zeiten von Internet, moderner Kommunikation und schnellem Datenaustausch verspürt fast jeder früher oder später den Drang, seine Gedanken über den Byte-Kanal mit anderen zu teilen. Ich habe mich daran genauso gewöhnt wie die meisten anderen, und auch mein Chef teilt seine spontanen Einfälle gerne per SMS oder E-Mail mit. Bis auf neulich.

Ich kam morgens ins Labor und entdeckte einen handbeschriebenen Zettel auf meinem Platz. Schon von weitem war mir klar, dass es eine Nachricht von meinem Chef war – sie war fast vollkommen unleserlich. „Hallo Annette“, stand da, wie ich Dank jahrelanger Übung und einem ausgefeilten detektivischen Spürsinn erkannte. „Ich habe gestern noch mal über den Versuch für heute nachgedacht und eine Kleinigkeit geändert.“ Das war schlecht, denn das bedeutete, dass ich die folgenden Zeilen exakt entziffern musste.

„Könntest Du die Zellen ... und entscheiden, ob die Zellzahl ... für eine neue .... mit halber Zellzahl?“ Mir brach der Schweiß aus. Ich las die Mitteilung nochmal. Was sollte ich mit den Zellen machen? Was war das denn für ein Anfangsbuchstabe? Ein kleines q, auf dem Kopf, mit Schleifchen? Haben wir so was überhaupt im Alphabet? Chef, ich kaufe ein „a“! Ich stolperte weiter durch die Kringel, die aussahen wie von einer betrunkenen Fliege aufs Papier getorkelt. „... wäre echt wichtig, bevor (unterstrichen) ... für einen Backup (Ausrufezeichen)“. Auch das noch, das Ganze war wichtig. Oh Mann!

„Ansonsten bitte nicht (unterstrichen) mit dem ... anfangen (auffangen / abfangen??), sondern erst mal....“ (zählen, wählen, wachsen?). Wie komm‘ ich aus der Nummer nur wieder raus? Ich hatte so was von keine Ahnung, was er mir sagen wollte. Chef, es gibt elektronische Datenweitergabe! Per Computer! Vielleicht sollte ich einfach gar nicht damit anfangen, was auch immer von mir gewünscht war, und lieber auf den Chef warten. Wenn es tatsächlich so wichtig war, wollte ich um keinen Preis etwas falsch machen. Stand ja auch da: „nicht mit (was auch immer) anfangen.“

Ich beschloss, dass er sicher nicht meinen Kaffeekonsum meinte, und gönnte mir eine Dosis. Das half. Bevor ich ernsthaft darüber nachdenken konnte, ob ich vielleicht wirklich auf ihn warten sollte, statt mit der Arbeit anzufangen, hatte ich einen Geistesblitz. Der letzte Satz auf dem Zettel war: „Komme erst später, heute ist Berufungskomitee-Sitzung und dann habe ich noch ein Gespräch mit der Tierstall-Leitung.“ Schön. Danke. So wusste ich immerhin die eher unwichtigen Dinge. Falls jetzt jemand ins Labor käme, wäre ich erstklassig auf die Frage „Wo ist denn der Chef?“ vorbereitet.

Dank Koffein hatte ich dann doch eine Eingebung und pilgerte zum Zellkulturschrank, in der Hoffnung, auf meinen Petrischalen würden weitere, eventuell sogar leserliche Hinweise zu finden sein. Und richtig, auf einer der Schalen stand mit rotem Stift „Diese! Mikroskop!“. Ich kam mir vor wie bei der Schnitzeljagd. Also düste ich mit „Diesen“ bewaffnet zum Mikroskop. Alles was ich sah, waren wunderschön gewachsene, zufriedene Zellen, die vor sich hin adhärierten. Leider fand ich am Mikroskop keine weiteren Hinweise und stellte aufgrund der Informationslücken die Weiterarbeit ein.

Wenig später ging die Labortüre auf, aber bevor ich einen Ton von mir geben konnte, hörte ich meinen Chef sagen: „Ach, Du bist schon da! Ich hatte Dir hier einen Zettel hingelegt, hat sich aber schon erledigt. Ich hab‘s mir dann doch anders überlegt. Wollte ihn grad wieder wegtun, bevor ich zur Sitzung gehe.“ Ich werde ihn demnächst mal in die Geheimnisse elektronischer Postfächer einweihen.



Letzte Änderungen: 01.08.2018