Editorial

Die da oben

Erlebnisse einer TA (102)

Annette Tietz


Die TA

In meinem ersten Labor gab es eine sogenannte „Medienküche“. Ein paar fleißige Damen mischten dort für uns unentwegt diverse Medien und Zusätze, autoklavierten die Flaschen oder Röhrchen und beschrifteten sie mit dem jeweiligen Datum. Auch bestückten sie Glaspipetten mit Watte, legten sie in Boxen, und sortierten sie frisch autoklaviert und beschriftet in den Schrank. Und natürlich holten sie auch alle gebrauchten Glaswaren wieder zum Waschen ab. Wahre Engel!

Giesela war einer davon. Einmal kam sie herein, als ich gerade aus einer Flasche Medium auf meine Zellen pipettierte. „Oh, du benutzt die Flaschen mit dem engen Hals.“ Ich schaute erst sie an, dann meine Flasche. Gab es unterschiedliche Flaschen? Sie zeigte mit dem Finger Richtung Zimmerdecke und meinte: „Die da oben wollen die nämlich nicht, die beschweren sich immer über die Flaschen mit dem engen Hals.“

Von wegen fleißig und friedlich

Die da oben? War Giesela tatsächlich ein Engel, der mit ihresgleichen in der Engelswerkstatt Mediumflaschen vorbereitete – und lediglich vor Weihnachten zur Plätzchenproduktion aussetzte? „Wenn es euch egal ist, welche Flaschen ihr bekommt, kann ich die mit dem weiten Hals ja nach oben bringen.“ Zu den anderen Engelchen? Brauchen die auch Medium?

„Weißt du, wir haben letzte Woche da oben darüber diskutiert, ob man das ‚D‘ von DMEM in rot schreibt, um es leichter von dem MEM-Medium unterscheiden zu können.“ Ich fragte mich, wie kleinkariert Engelchen wohl sind. Von mir aus konnte Giesela auch Blümchen auf die Flaschen malen – solange drin ist, was drauf steht.

„Manchmal mag ich da gar nicht rauf, aber wir wechseln uns eben ab.“ Giesela schien echt etwas enttäuscht zu sein von den anderen fleißigen Engelchen. Offenbar arbeiteten sie im Schichtdienst. „Ähem,... klar kannst du die Flaschen hoch bringen, wenn es euch hilft“, sagte ich zögerlich. Ich wusste immer noch nicht, was ich von dem Gezicke der Engelchen halten sollte.

Kurz heiterte sich Gieselas Miene auf. Dann holte sie tief Luft und setzte noch einen drauf. „Und dauernd beschweren sie sich, dass die Boxen mit den autoklavierten Pipetten nicht der Größe nach geordnet sind – da kämen sie ganz durcheinander.“ Vor meinem geistigen Auge sah ich plötzlich Engelchen mit Boxhandschuhen aufeinander losgehen, um die Verteilung der Flaschen und die Sortierung der Boxen auszufechten. Statt friedlich und fleißig vor sich hin zu wurschteln. Ehrlich gesagt, war ich etwas enttäuscht.

„Und weißt du was? Die eine hat neulich behauptet, wir seien schuld daran, dass ihr Versuch nicht geklappt hat. Weil das Medium nicht in Ordnung war, oder ein Zusatz, oder die Pipetten nicht richtig autoklaviert...!“ Giesela schnappte nach Luft. Vor meinem geistigen Auge schmiss ein Engelchen seine Boxhandschuhe in die Ecke und stemmte die Hände in die Hüfte, das andere schüttelte erbost den Kopf, während ein weiteres eine Flasche DMEM zum Wurf bereit hielt. Ich war erstaunt, dass die auch Versuche machten – „da oben“.

„Irgendwie ist die neue Arbeitsgruppe da oben im zweiten Stock ziemlich komisch“, schloss Giesela ihren Vortrag.

Bevor meine Engelchen-Seifenblase zerplatzte, klatschte sich das eine Engelchen noch mit dem anderen ab, sortierte die Pipettenboxen der Größe nach und ließ alle Flaschen mit engem Hals hinter seinem Kittel verschwinden. Das andere zwinkerte mir zu, zückte einen roten Stift und malte ein dickes rotes „D“ auf die Flasche.



Letzte Änderungen: 01.08.2018