Editorial

Endokrinologie – ein Fach kämpft ums Überleben

(15.11.2019) HIGHLIGHTS AUS 25 JAHREN LABOR­JOURNAL: Immer wieder geraten ganze Fächer in Existenznot. Vor acht Jahren schlug die Endokrinologie Alarm.
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Rote Zahlen sowie Abbau von Betten und Stellen kennzeichnen die Situation der Endokrinologie an den Universitätskliniken. Viele sehen dadurch Forschung und Lehre, die Weiterbildung zum Facharzt wie auch die Krankenversorgung in diesem Teilgebiet der Medizin ernsthaft in Gefahr. Ihre Vorschläge zur Rettung des Fachs: Änderungen in der Vergütung ambulanter endokrinologischer Leistungen und die Einrichtung einer Planungskommission. 

„Die universitäre Endokrinologie ist in Gefahr!“ Mit diesem Hilferuf wandte sich die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) im Januar mit einer Stellungnahme an die Öffentlichkeit und an „Entscheidungsträger“. Unterzeichnet hatten 27 Professoren. Diese sehen demnach ziemlich schwarz für die Zukunft ihres Faches, wenn sich nichts Entscheidendes ändert. 

„So wie das Gesundheitssystem jetzt organisiert ist, hat die Endokrinologie an den Universitäten keine Chance“, warnt DGE-Präsident Andreas F. H. Pfeiffer. Ausbildung und Weiterbildung von Medizinern, die Krankenversorgung wie auch die Forschung seien ernsthaft gefährdet in dem Teilgebiet der Inneren Medizin, das auch die Lehre von den Hormonen genannt wird. Entsprechend beschäftigt sich die Endokrinologie zum Beispiel mit den hormonellen Grundlagen von Diabetes mellitus, Osteoporose, Schilddrüsenerkrankungen, ungewollter Kinderlosigkeit, Wachstumsstörungen, hormonproduzierenden Tumoren und anderen Krankheiten. 

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Abbau von Betten = Nachwuchsmangel

Kennzeichnend für das Fach sind nicht zuletzt deshalb aufwändige und teure Hormonbestimmungen, für deren Interpretation es erfahrene Spezialisten braucht. Solche finden endokrinologische Patienten vor allem an den Universitätskliniken. Noch. Denn der Fortbestand vieler Arbeitsgruppen und Abteilungen dort hängt laut DGE an einem seidenen Faden. Eine kostendeckende Krankenversorgung sei an vielen Universitätsstandorten momentan kaum mehr zu erreichen. Dabei befinden sich die Hälfte aller stationären endokrinologischen Betten in Deutschland in Universitätskliniken. 

„Schuld an der Situation sind Entwicklungen im Gesundheitssystem, deren Auswirkungen auf die Universitätsmedizin wahrscheinlich keiner der verantwortlichen Akteure abschätzen konnte und so gewollt hat“, vermutet Martin Reincke, ehemaliges DGE-Präsidiumsmitglied und Inhaber des Lehrstuhls für Endokrinologie und Diabetologie an der LMU München. 

Seit der Einführung der Fallpauschalen, bei denen Kliniken pro Krankheitsfall und Patient einen bestimmten Betrag im Quartal erhalten, musste aus Kostengründen in den endokrinologischen Abteilungen der Universitätskliniken die Zahl der stationären Betten sukzessive reduziert werden. Dies wirkt sich jedoch zwangsweise auf die Aus- und Weiterbildung von Medizinern aus, da somit Patienten fehlen, an denen Studenten und zukünftige Fachärzte lernen können. Die Qualifikation zum Facharzt in der Endokrinologie schreibt indes eine 18-monatige Weiterbildung in einer stationären endokrinologischen Abteilung vor. Diese ist nun an vielen Standorten gefährdet oder kann nur noch von einer geringeren Zahl von Medizinern durchlaufen werden. In Zukunft werde es daher an Experten in diesem Fach mangeln, befürchtet die DGE.

Ambulante Behandlungen nehmen zu

Viele der ehemals stationären endokrinologischen Leistungen verlagerten sich, wie politisch auch gewollt, in den kostengünstigeren ambulanten Bereich. Doch auch hier kämpfen die Endokrinologen mit erheblichen finanziellen Problemen. „Wir bekommen an der Charité eine sogenannte Hochschulambulanzpauschale von 60 Euro pro Patient und Quartal“, erklärt DGE-Präsident Pfeiffer, der dort die Abteilung für Endokrinologie, Diabetes und Ernährungsmedizin leitet. Dieser Betrag beinhaltet alle Kosten für einen Patienten – auch die teuren Laboruntersuchungen. Allein deren Kosten sind jedoch schon höher als die Pauschale. Diese werden den Ambulanzen universitätsintern vom jeweiligen Universitätslabor in Rechnung gestellt, wodurch eine negative Bilanz entsteht. Das wiederum wollen die Universitätsverwaltungen natürlich nicht akzeptieren, so dass sie die Ambulanz schlimmstenfalls schließen. 

Nicht jede Klinik erhält übrigens die gleiche Pauschale für einen ambulant behandelten endokrinologischen Patienten. Die Höhe der Vergütung hängt davon ab, welchen Satz die kassenärztliche Vereinigung des jeweiligen Bundeslands und die Klinik miteinander aushandeln. Laut DGE schwankt dieser zwischen 20 und 80 Euro pro Quartal und Patient. Weil die Kosten für die Hormonbestimmungen an die Labore abgeführt werden müssen, ist dieser Betrag in jedem Fall zu niedrig.

„Nur mit dem Labor kann in der Endokrinologie Geld verdient werden“, erläutert DGE-Präsident Pfeiffer die Problematik. Die Interpretation der Ergebnisse durch erfahrene und gut ausgebildete Spezialisten werde dagegen nicht vergütet. An der Charité könne der Betrieb der endokrinologischen Ambulanz nur durch Forschungsgelder der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und andere Drittmittel aufrecht erhalten werden. Das sei aber nicht Sinn und Zweck dieser Gelder.

Lehrgeld versickert

Neben der Vergütung für die Krankenversorgung durch die Kassen und den Forschungsgeldern bekommen Universitätsambulanzen auch Geld für die Lehre, die das im jeweiligen Bundesland zuständige Kultus- oder Wissenschaftsministerium- verteilt. Doch auch hier gibt es Probleme. „Diese Gelder kommen bei uns gar nicht an“, klagt Pfeiffer. „Sie bleiben in der Universitätsverwaltung hängen.“

Besser als ihre Kollegen an den Hochschulen haben es Endokrinologen, die eine eigene Praxis haben oder Mitglied in einem sogenannten Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) sind. Diese dürfen die teuren Laborleistungen getrennt abrechnen. Auch an manchen Unikliniken gibt es inzwischen MVZs, die die Laborleistungen extra abrechnen können. Diese MVZs erhalten einen Festbetrag von 24 Euro pro Patient im Quartal. Die Vergütungen für Laborleistungen fließen dagegen direkt ins jeweilige Zentrallabor der Universität und verursachen keine negative Bilanz mehr. 

Doch mit den niedrigen Krankenversicherungsbeiträgen alleine ist es auch in MVZs schwer, die Mitarbeiter zu finanzieren. Laut DGE-Präsident Pfeiffer sind MVZs dennoch die einzige Möglichkeit, eine endokrinologische Ambulanz zu führen, die aber dann sehr knapp besetzt ist. „An vielen Hochschulstandorten werden Ambulanzen inzwischen mit einer Minimalbesetzung von einem Arzt und einer Schwester betrieben“, verdeutlicht Pfeiffer die vielerorts prekäre Lage. 

Die Entwicklungen im Gesundheitssystem beeinflussen an den Universitätskliniken indes nicht nur die Endokrinologie. Auch in anderen medizinischen Fachbereichen verlagern sich bisher stationäre Leistungen zunehmend in den ambulanten Bereich. Betroffen sind Rheumatologen, Angiologen (Gefäßmediziner), Pneumologen (Lungenfachärzte) und andere. Im Juli 2010 hat sich der Wissenschaftsrat deshalb dafür ausgesprochen, die Rolle der Ambulanzen innerhalb der Universitätskliniken zu stärken. „In der traditionell vorwiegend auf die stationäre Versorgung ausgerichteten Universitätsmedizin müssen die hochschulmedizinischen Ambulanzen in Zukunft als gleichwertiger Teil betrachtet werden“, fasste der Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Peter Strohschneider, damals die Erwartungen des Gremiums zusammen. „Das bedeutet vor allem, Struktur und Organisation dieser Einrichtungen ihrer wachsenden Bedeutung entsprechend auszugestalten und stärker auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten auszurichten.“ Der Wissenschaftsrat schlug dazu ein abgestuftes Organisationsmodell mit wenigen zentralen Ambulanzportalen und nachgelagerten Spezialambulanzen vor, die in ihrer Gesamtheit das Profil der jeweiligen Universitätsklinik widerspiegeln sollten. Die Ambulanzen sollten, so die Empfehlung, in Zukunft stärker in die patientenorientierte klinische Forschung und in die Lehre eingebunden werden.

Weiter schlägt das Forschergremium vor, die derzeitige Pauschalvergütung zugunsten einer differenzierteren und leistungsgerechteren Vergütung ambulanter medizinischer Leistungen weiter zu entwickeln.

Getrennte Vergütung

In diese Richtung gehen auch die Vorstellungen der DGE. Eine mögliche Lösung der Finanzierungsprobleme wäre laut der Stellungnahme vom Januar die getrennte Honorierung von Laborkosten und Interpretation der Ergebnisse, so dass die Ambulanzen die Labor-untersuchungen nicht mehr bezahlen müssen. Dazu wären allerdings Änderungen der Rahmengesetzgebung im Sozialgesetzbuch notwendig – und damit die Bundespolitik gefragt. Dort scheinen die Spezialprobleme der ambulanten Universitätsmedizin aber noch nicht so recht angekommen sein. Zumindest wollte sich von den einzelnen Bundestagsfraktionen keiner der gesundheitspolitischen Sprecher zu der Frage äußern, ob ihnen die Problematik der Endokrinologie an den Universitätskliniken bewusst sei und ob Überlegungen bestünden, diese Entwicklung zu stoppen.

Eine weitere Schraube, an der gedreht werden könnte, wäre die Erhöhung der Gelder für Lehraufgaben im Medizinstudium. Hier sind die Bundesländer zuständig, so dass jede Universität für sich verhandeln müsste. 

Kaum Problembewusstsein

Die Situation ist insgesamt kompliziert. Das ist auch der DGE bewusst. Deshalb fordert sie in ihrer Stellungnahme zudem die Einrichtung einer Planungskommission. Mitglieder sollen neben den betroffenen Institutionen Vertreter des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG), des Bundesministeriums für Forschung und Bildung (BMFB), der Hochschulen, der Fachgesellschaften, der Krankenkassen und der ärztlichen Selbstverwaltung sein.

Doch die Reaktionen der potentiellen Akteure eines solchen Gremiums sind im Moment noch verhalten. Am Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) kennt man die DGE-Stellungnahme, sieht aber keine Einflussmöglichkeiten seitens des Ministeriums auf die dort angesprochenen Probleme bei der Finanzierung der Endokrinologie an den Universitätskliniken. Dafür seien die Länder und die Kostenträger im Gesundheitssystem verantwortlich. Beim Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) liegen nach eigenen Angaben keine Erkenntnisse vor, dass es speziell in der universitären Endokrinologie ein besonderes Problem gebe. 

Ein möglicher Weg, auf ein solches aufmerksam zu machen, wären aber laut GKV die regelmäßigen Treffen von Fachleuten des GKV-Spitzenverbandes als Vertreter der Krankenkassen mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft als Vertretung aller Krankenhäuser, also auch der Universitätsklinika. Im Bundesgesundheitsministerium (BGM) scheint man sich dagegen gewisser Schwierigkeiten bewusst. Das derzeitige Honorarsystem sei komplex und kaum durchschaubar und führe an vielen Stellen zu Verwerfungen, heißt es von dort. „Deswegen ist unser Ziel ein Honorarsystem, das leistungsgerecht und transparent ist“, ließ das BMG durch einen Sprecher wissen. 

Ob dieses Bekenntnis alleine reicht, um das „Aschenputtel der Inneren Medizin“, wie ein DGE-Mitglied sein Fachgebiet bezeichnet hat, zu retten, ist jedoch mehr als fraglich.

Gerti Fluhr-Meyer

(Der Artikel erschien in der Laborjournal-Ausgabe 4/2011)

 




Letzte Änderungen: 14.11.2019