Editorial

Zeitbomben
im Genom

(03.01.2023) Das menschliche Genom ist voller Sequenzen, die Retroviren ähneln. Wieder zum Leben erwacht stehen sie im Verdacht, Krankheiten auszulösen.
editorial_bild

Lange Zeit sah es so aus, als ob ein Großteil der menschlichen DNA funktions­losen „Müll“ darstellt, der sich irgendwann in der Evolution angesammelt hat. Inzwischen hat man erkannt, dass viele dieser scheinbar nutzlosen Sequenzen sehr wohl eine – oft regulatorische – Funktion haben. Noch wenig erforscht sind hingegen von Retroviren abstammende Sequenz­abschnitte, die irgendwann stabil ins menschliche Genom integriert wurden. Da diese sogenannten HERV (humane endogene Retroviren) immerhin acht Prozent des menschlichen Genoms ausmachen und damit fünfmal mehr Platz einnehmen als codierende Gene, ist zu vermuten, dass sie ihrem Wirt irgendeinen Nutzen bringen.

Editorial

Spuren aus grauer Vorzeit

In den letzten Jahren mehren sich allerdings vor allem die Hinweise darauf, dass HERV an der Entstehung von Krankheiten beteiligt sein können – ein Grund für viele Forscher aus unterschiedlichen Disziplinen, sich das mal genauer anzuschauen. Zu ihnen gehört Patrick Küry, Universitäts­professor für Neuro­regeneration und Forschungs­gruppenleiter an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Als Zellbiologe forscht er über die Mechanismen der Neuro­regeneration und ist dabei eher zufällig mit den mysteriösen viralen Sequenzen in Kontakt gekommen. „Wir erforschen, wieso das Gehirn nach einer Verletzung nicht mehr regenerieren kann“, erzählt er. „Eine Modell­erkrankung, mit der wir arbeiten, ist die Multiple Sklerose (MS), bei der mit jedem Krankheits­schub die neurologischen Ausfälle zunehmen.“ Bereits im Jahr 1997 zeigte der französische Virologe Hervé Perron, dass bei der Entstehung der MS auch HERV eine Rolle spielen.

„Die meisten HERV sind schon viele Millionen Jahre alt“, sagt Küry. „Es handelt sich um stabil ins Genom integrierte virale Kassetten, die transkriptionell weitgehend stillgelegt sind.“ Letzteres wird vor allem durch epigenetische Mechanismen wie DNA-Methylierung und Histon­modifikation sichergestellt. „Viele HERV haben in der langen Zeit ihrer Existenz aber auch Insertionen und Deletionen angehäuft, sodass sie gar nicht mehr funktions­fähig sind“, fügt Küry hinzu. Ohne diese Inaktivierung würden sich HERV als Untergruppe der Retro­transposons ständig durch einen Copy-and-Paste-Mechanismus vermehren – Chaos im Genom wäre programmiert!

„Es darf nicht sein“

Manche von ihnen ticken aber im Genom tatsächlich wie kleine Zeitbomben: Längst nicht nur bei MS ist eine Beteiligung von HERV nachgewiesen. Sondern beispielsweise auch bei der Schizophrenie (PNAS, 98(8):4634-9) und der Amyotrophen Lateral­sklerose (ALS). Zunächst sei der Gegenwind gegen das Konzept sehr hoch gewesen, erinnert sich Küry. „Es durfte nicht sein, dass etwas aus unserem eigenen Genom sich derart gegen uns wendet und uns letztlich krank macht.“ Der Zellbiologe selbst ist davon überzeugt, dass aktivierte HERV eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der MS spielen – nicht zuletzt, weil er selbst mit seinem Team wichtige Forschungs­beiträge in dieser Richtung geleistet hat. „Den eindeutigen Beweis zu erbringen, ist aber schwierig, weil die für den Menschen spezifischen endogenen Retroviren im Mausmodell nun mal nur schlecht untersucht werden können.“ Oft müssen sich die Forscher deshalb auf Korrelationen verlassen, die allerdings sehr stark sein können.

Als Auslöser für die Aktivierung von HERV werden unter anderem UV-Licht und verschiedene Infektions­krankheiten wie eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) diskutiert. Im Falle der Multiplen Sklerose ist eine voran­gegangene Infektion mit EBV ein wichtiger Risikofaktor. Häufig erfolgt sie asymptomatisch, schwere Verläufe wie das Pfeiffersche Drüsenfieber sind selten.

Aus dem Dornröschenschlaf erwacht

Genauso vielfältig wie die Auslöser einer HERV-Aktivierung sind die möglichen Folgen. So können HERV-Sequenzen als Promotoren oder Enhancer dienen und somit die Expression anderer Gene verändern, wenn sie im Zuge ihrer Vermehrung in deren Nähe ins Genom integriert werden. Auf ähnliche Weise können sie alternative Spleiß- oder Polyadeny­lierungs­stellen erzeugen und dadurch Genprodukte verändern.

In manchen Fällen werden nach einer HERV-Aktivierung sogar virale Proteine gebildet. Dass diese über pathogenes Potenzial verfügen, haben Küry und sein Team für die MS gezeigt (PNAS, 116(30): 15216-25). Hier ist der Übeltäter ein retrovirales Hüllprotein, das Entzündungs­prozesse und Neuro­degeneration fördert und zudem intrinsische Regenerations­prozesse erschwert. „Die Hüllproteine werden in den Mikro­gliazellen gebildet, gelangen wie ihre Pendants in Retroviren an die Oberfläche und werden dort abgestreift“, beschreibt Küry. Im Zellzwischen­raum bilden sich daraus Multimere, die kaum noch abbaubar sind und an verschiedene Oberflächen­rezeptoren von Mikro­gliazellen andocken. Die daraufhin angeschalteten Signalwege scheinen die Immunzellen aggressiver werden zu lassen. Ihre Attacken richten sich vor allem gegen die Myelin-produzie­renden Oligo­dendro­zyten.

Der endgültige Beweis

Trotz aller aufregenden Erkenntnisse der letzten Jahre muss man festhalten, dass die HERV-Forschung gerade erst in Fahrt kommt und viele Zusammen­hänge noch kaum verstanden sind. Die größte Heraus­forderung besteht für Küry darin, endlich einen direkten Beweis, jenseits von Korrelationen, für die Pathogenität der HERV zu erbringen. Auch Überlegungen, wie sich die pathogenen Virus­komponenten inaktivieren lassen könnten, werden seiner Meinung nach in den nächsten Jahren im Vordergrund stehen.

Und dann ist letztlich die Frage zu klären, ob auch andere Krankheiten mit der Aktivierung von HERV einhergehen. „Aktive HERV sind oft nicht leicht nachzuweisen, weil sie nur schwach abgelesen werden“, weiß der Zellbiologe. Die Suche könnte aber damit belohnt werden, eine Erklärung für bisher unverstandene Krankheiten zu finden und damit die Möglichkeit, sie endlich wirksam zu behandeln.

Larissa Tetsch

Bild: AdobeStock/kras99

Dieser gekürzte Artikel erschien zuerst in ausführlicher Form in Laborjournal 12/2022. Darin berichtet Larissa Tetsch auch über die Forschung von Martin S. Staege, der am Uniklinikum Halle an der Saale HERV-Sequenzen identifiziert, die bei Krebs- oder Autoimmunerkrankungen exprimiert werden.


Weitere Artikel aus dem aktuellen Laborjournal-Heft (12/2022)


- Neue Varianten früh erkennen

Inzwischen haben die meisten von uns wohl den Überblick verloren. Trotzdem sei die Lage derzeit unerwartet entspannt, beruhigt Ulrich Elling vom Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) in Wien. Der Genetiker überwacht die SARS-CoV-2-Varianten in Österreich.

- Stichwort des Monats: Bakterielle Genotoxine

Unter den Mikroorganismen tummeln sich ein paar Schurken, die schädliche Substanzen herstellen. Denken wir beispielsweise an das Botulinumtoxin aus Clostridium, das als eines der stärksten Gifte überhaupt gilt. Andere Bakterien produzieren Stoffe, die DNA schädigen.

- Kleine Antikörper-Rivalen - Aptamere und Affimere

Aptamere binden ihre Zielmoleküle ähnlich spezifisch wie Antikörper, sind aber deutlich vielseitiger. Als Imaging- und Diagnostik-Agentien konnten sie sich bereits etablieren, als Therapeutika sind sie noch in der Probephase.

 




Letzte Änderungen: 03.01.2023